Jung sein auf dem Dorf hat so seine Nachteile. Einer der
größten ist wohl, dass die Verkehrsverbindungen zu wünschen übriglassen. Kein
Bus und keine Straßenbahn, die einen alle fünf Minuten durch die Gegend
kutschieren. Wer keinen Kumpel mit Führerschein hat, hat hier draußen eindeutig
die Arschkarte gezogen. Wir hatten keinen volljährigen Kumpel und waren somit
am Arsch. Besonders an Abenden wie diesem, an denen weiter draußen eine Party
stieg. Also gab es zwei Möglichkeiten, laufen oder sich mit dem Bike
abstrampeln. Nicht hingehen war keine Option. Für die große Party am Ausee
heute Abend, entschieden wir uns für die Bikes. Zum Laufen wäre es zu weit
gewesen, vor allem weil die Mädels sich schick machen und die schönen Schuhe
anziehen wollten.
Wir trafen uns an der Tankstelle. Mick und ich hatten
unseren Eltern als Ausrede erzählt, wir würden bei seinem Onkel zelten. Keine
Ahnung, was die Mädels zu Hause erzählt hatten. So wie die zwei aufgedonnert
waren, hätte ihnen die Zeitgeschichte zumindest niemand abgenommen. Mick war
als erster an der Tanke und wartete schon auf uns, als wir ankamen. Er lehnte
auf dem Lenker seines Mountainbikes und grinste breit, als die Mädchen hinter
mir in die Zufahrt bogen. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie näherkamen.
„Hey Sue, wofür hast du dich so angemalt? Das ist eine
Sommerparty am See und nicht das Casting zu Bayerns next Superclown.“
Sie ignorierte ihn und schob ihr Rad an ihm vorbei. Ich
unterdrückte ein Lachen. Ja, Sue sah wirklich schon fast lächerlich aus. Aber
es war keine gute Idee, sie zu verärgern, wenn man nicht wollte, dass sie uns
den restlichen Abend die Stimmung verdarb. Hinter ihr dackelte wie immer Moni
einher. Sie war eine kleinere, blassere Kopie von Sue. Dieselbe Art, derselbe
Style, nur alles etwas farbloser und etwas weniger laut und aufdringlich.
„Wollen wir noch versuchen, etwas Schnaps und ein paar
Kippen zu holen?“ schlug ich vor, um das Thema zu wechseln. Am See würden sie
uns dafür mit Sicherheit feiern. Doch Mick schüttelte den Kopf.
„Kannste vergessen. Die alte Reinhart steht an der Kasse,
da kriegen wir höchstens ein Päckchen Kaugummis.“
Ich seufzte. Es wäre schon cool gewesen, dort mit einer
Flasche Vodka auftauchen zu können. Hätte Micks Cousin gearbeitet, wäre das
auch kein Problem gewesen. Ebenso wie die Kippen. Doch so würden wir eben mit
leeren Händen aufschlagen, unsere fünf Euro Eintrittsgeld abgeben und in der
Menge verschwinden. Sue schob ihr Rad demonstrativ an uns vorbei, zurück in Richtung
Straße.
„Können wir dann endlich los? Wir verpassen noch den
ganzen Spaß, wenn wir hier noch lange rumtrödeln.“
Mir war absolut klar, wieso sie es so eilig hatte. Die
anderen Mädels hatten ihr gesteckt, dass dieser eine Typ, der Asiate vom
Gymnasium dort sein würde. Keine Ahnung wie der hieß und wieso die alle auf den
abfuhren. Aber Sue hatte eindeutig Angst, dass sich eine andere ihm an den Hals
warf, bevor sie die Chance dazu hatte. Also nickte ich nur. Mick und Moni
hatten keine große Meinung dazu, aber auch sie rollten mit ihren Bikes runter
zur Straße. Wir überquerten die Bundestraße und traten in die Pedale. Luftlinie
war der See eigentlich gar nicht so weit weg von der Tankstelle und der
dahinter liegenden Siedlung. Doch die kleine Nebenstraße schlängelte sich
zwischen den unzähligen Feldern hindurch und zog die Fahrt so auf beinahe eine
Viertelstunde hin. Im Vorbeifahren fiel mir auf, wie hoch der Mais bereits
stand. Er überragte uns bereits deutlich und man konnte nicht mehr sehen, was
auf der anderen Seite des Feldes lag. Das Weizenfeld war bereits abgeerntet,
die Wiese stand fast hüfthoch neben der Straße. Doch der Großteil des Weges
wurde von den riesigen Maisfeldern eingerahmt.
Ich überlegte kurz, ob wir ein paar Maisstauden ausreißen
und mitnehmen sollten. Vielleicht war der Mais schon reif genug, um ihn über
dem Feuer zu grillen. Doch es war gerade Mal 19 Uhr und das Risiko, dass uns
jemand mit dem Mais sah, war mir dann doch zu groß. Vor allem weil diese Felder
dem alten Mesner gehörten. Einem furchtbar unangenehmen Zeitgenossen, der einen
schon Mal mit dem Traktor verfolgte, wenn er einen auf seinen Feldern
erwischte. Der Typ war echt gestört. Deshalb mieden wir soweit es ging, sogar
die Wege zwischen den Feldern. Man konnte nie wissen, wann er hinter den hohen
Maisstauden plötzlich um die Ecke bog und anfing, einen anzuschreien und aufs
Übelste zu beschimpfen. Es gingen sogar Geschichten um, dass er schon mal
jemanden in seiner Wut erschlagen und in den Feldern versteckt hatte. Mein Dad
sagte, das sei dummes Geschwätz, der alte Mesner sei einfach nur ein
cholerischer Säufer, der den Leuten zwar gern einen riesigen Schrecken
einjagte, aber niemandem etwas zu Leide tat.
Ich wollte es nicht wirklich ausprobieren und selbst
jetzt, wo wir uns auf der Teerstraße befanden, trat ich unwillkürlich schneller
in die Pedale, bis wir den kleinen Bach überquert und die Felder hinter uns
gelassen hatten.
Als wir den See erreichten, war die Party bereits in
vollem Gange. Es waren Ferien und es hatte sich rumgesprochen, dass heute hier
etwas los war. Auf dem Parkplatz standen sogar ein paar Autos mit auswärtigem
Kennzeichen. In den Zeiten von social Media eigentlich nicht mehr
verwunderlich. Da wusste ja jeder von jeder Party rund um die Welt. Wir lehnten
unsere Bikes an einen der Bäume und stürzten uns ins Getümmel. Es waren sicher
um die 40 Leute da.
Mich wunderte etwas, dass so eine große Party nicht
kontrolliert wurde. Aber das war eben einer der Vorteile hier draußen. Wenn wir
nicht die Felder abfackelten und den Bereich am See nicht komplett verwüsteten,
krähte kein Hahn danach, was wir hier trieben. In den Grillplätzen brannten
schon die Feuer, es wurden Kühlboxen mit Bier und Cola herumgeschleppt und ein
paar Leute sprangen noch im See herum.
Sue scannte bereits den ganzen Bereich nach ihrem Schwarm
ab und war schon nach wenigen Minuten mit Moni im Schlepptau verschwunden. Für
Mick und mich standen andere Dinge im Vordergrund. Wir machten uns auf die
Suche nach Semi, er war es immer, der diese Partys organisierte und auch das
Geld einsammelte. Eine Dose Bier, ne fette Grillwurst und am See sitzen und
über Sport quatschen, war alles, was wir im Sinn hatten. Wir hatten eine schöne
Zeit, fachsimpelten mit Schulkollegen und Kumpels aus dem Sportverein darüber,
welche Transfers die Clubs machen müssten, um in der Bundesliga vorn
mitzuspielen, die Verantwortlichen hatten da selbstverständlich weniger Ahnung
als wir. Wir tranken, aßen, lachten und fanden die Party spitze, bis es begann
langsam dunkel zu werden. Dann begann die Stimmung langsam zu kippen.
Den ersten Zoff gab es drüben bei den Grillplätzen. Keine
Ahnung wieso, plötzlich begannen sie rumzuschreien, bauten sich vor einander
auf und schubsten sich gegenseitig hin und her. Bevor das ganze eskalierte und
sie sich wirklich aufs Maul hauten, ging Semi brüllend dazwischen und drohte
den Beteiligten mit der Polizei, wenn sie sich nicht sofort verzogen. Die
Streithammel warfen sich noch ein paar wütende Blicke zu, dann traten beide den
Rückzug an und verschwanden auch von der Party. Kurz darauf hörte man vom
Parkplatz die Motoren heulen und ein paar Leute schlitterten mit durchdrehenden
Reifen auf die Straße.
Ich war froh, dass es so glimpflich abgegangen war. Auch
wenn Mick mich damit gerne aufzog, ich habe mich noch nie geprügelt und wäre
auch sehr froh, es so belassen zu können. Aber nach diesem Zwischenfall war
irgendwie der Wurm drin. Immer mehr Leute kriegten sich in die Haare und
verließen die Party. Kurz vor halb elf ließ Semi die Grillfeuer löschen nachdem
ein paar Betrunkene begonnen hatten, sich mit den glühenden Holzscheiten zu
bewerfen. Nach und nach verschwanden die Partygäste, oft begleitet von lautem
Gegröle und Scheppern, wenn sie versuchten ihre Fahrräder auf die Straße zu
schieben und dabei über die eigenen Füße stolperten. Von unseren Mädels fehlte
immer noch jede Spur. Nicht dass ich mir Sorgen gemacht hätte.
Mick und ich streiften über die Wiese und kontrollierten
die Kühlboxen, ob noch irgendwo ein Bier zu finden war, als Sue auf uns zu
gestapft kam. Das erste was ich sah, was das dicke Make-up, das über ihr
Gesicht hinab lief. Zuerst dachte ich, sie hätte geweint, doch dann bemerkte
ich, dass alles an ihr tropfte. Ihre Schuhe trug sie in der linken Hand und sie
kochte vor Wut. Mick kicherte und ließ den Deckel einer leeren Kühlbox
zuschlagen.
„Wenn du ne Poolsession einlegen willst, solltest du’s
nächstes Mal mit wasserfester Schminke versuchen.“
Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde ihre Schuhe
nach ihm werfen oder anfangen, mit ihnen auf ihn einzuschlagen. Doch Sue
zitterte nur vor Wut. Ihre Stimme war dick belegt und es klang als würde sie
gleich losheulen.
„Lasst uns fahren, ich will weg.“
Ein schneller Blick über die Schulter zu Mick zeigte mir,
dass es ihm egal war. Moni würde machen, was immer wir beschlossen. Also nickte
ich, die Party war eigentlich eh schon gelaufen. Während die anderen schon mal
zu den Rädern gingen, verabschiedete ich mich noch schnell von Semi. Es war
kurz vor 23 Uhr und das einzige Licht am See kam vom Mond. Mit den richtigen
Leuten wäre es noch richtig cool gewesen, aber die Stimmung war dahin. Also
beeilte ich mich, die anderen einzuholen. Zu meiner Verwunderung standen sie
zwischen den Bäumen und leuchteten mit den Lampen ihrer Smartphones die Gegend
ab. Zumindest Moni und Mick, ich schätze Sues Handy war im See abgesoffen bei
was immer da passiert sein mochte.
Bevor ich fragen konnte, was los war, erkannte ich das
Problem. Von den vier Bikes lehnte nur noch das von Mick an dem Baum und das
mit platten Reifen. Die anderen drei waren weg. Ich fluchte leise. Plötzlich
verschwand Mick auf dem kleinen Hang der zum Kanal runter ging und zerrte
schließlich die Überreste von Sues Fahrrad aus dem Gestrüpp. Der Sattel und die
Reifen waren aufgeschlitzt, die Felgen waren verbogen. Das ganze Ding war
Schrott.
Für Sue war das jetzt zu viel. Sie fing an zu heulen und
schrie nur noch, dass sie keine Lust mehr hatte und weg wollte. Ein kurzer
Rundumblick zeigte, dass die Möglichkeiten begrenzt waren. Die Autos waren weg,
es stand nur noch ein Roller und vereinzelte Fahrräder herum. Doch anders als
wir, waren die Anderen so schlau gewesen, ihre Räder abzusperren. Also blieb
nicht viel übrig, als sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen.
Es war totenstill auf der Straße bis auf das immer wieder
ausbrechende Gejammer von Sue. Die letzten Geräusche von der Party waren
schnell von den umliegenden Bäumen verschluckt worden und außer uns war niemand
unterwegs um diese Uhrzeit. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir auch nur
die Brücke über den Bach erreicht hatten. Keiner von uns machte sich die Mühe
die Uhrzeit auf dem Handy zu checken. Vermutlich hätte uns das nur noch mehr
frustriert.
Wir machten auf der Brücke kurz Rast. Während Sue weiter
vor sich hin jammerte, dass ihre Füße weh taten und ihre Eltern sie wegen dem Fahrrad
umbringen würden und wie sie das alles erklären solle, ließ ich meinen Blick
die Straße entlang wandern, bis dahin, wo sie zwischen den Maisfeldern nicht
mehr zu sehen war. Mick lehnte neben mir an dem Brückengeländer.
„Wie wäre es mit einer Abkürzung,“ schlug er plötzlich
vor. Ich sah ihn verwundert an, doch er starrte immer noch in die Ferne. „Wenn
wir einfach quer durch die Felder gehen, sparen wir uns garantiert mindestens
eine Viertelstunde, wenn nicht sogar mehr.“
Die Mädels hinter uns wurden still. Ich konnte nicht
wirklich glauben, dass Mick den Vorschlag wirklich gemacht hatte. Natürlich
hatte er recht. Wenn wir querfeldein liefen, wäre der Weg deutlich kürzer. Zu
meiner Überraschung war es Moni, die sich als erstes äußerte.
„Vergiss es, auf keinen Fall. Wenn der Mesner dahinter
kommt…“
„Wie soll er das denn?“ fiel Mick ihr höhnisch ins Wort.
„Der Alte hat sich schon längst in den Schlaf gesoffen und er wird ja wohl kaum
Fallen in seinen Feldern verstecken. Also gibt’s keinen Ärger, wenn wir einfach
alle die Schnauze halten morgen früh.“
Moni schüttelte immer noch entschlossen den Kopf.
„Ich setz da keinen Fuß rein!“
Mick sah Sue und mich an. Sue schob ihre verschmierte
Unterlippe trotzig vor.
„Mir ist alles recht, was mich schneller ins Bett bringt.
Stell dich nicht so an Moni, wir gehen durch die Felder.“
Nach kurzem Überlegen nickte ich zur Zustimmung. Was
sollte schon groß passieren. Wir trampelten etwas Wiese nieder, knickten
vielleicht ein paar Maisstauden, aber der Mesner würde sicherlich nicht nachts
durch seine Felder patrouillieren und er würde auch nicht die Kripo
einschalten, um am nächsten Tag unsere Spuren auswerten zu lassen. Nur Moni
weigerte sich weiterhin, egal was wir sagten. Sie begleitete uns bis an den
Rand der Wiese.
„Willst du wirklich nicht mitgehen? Ich meine, so ganz
allein auf der Straße nachts…“ Sie lächelte mich an und schüttelte entschlossen
den Kopf.
„Allein auf der Straße fühl ich mich wesentlich sicherer,
als da drin.“ Sie zeigte nach vorn auf das Maisfeld. „Mach dir keine Sorgen,
Toni, ich schreib euch ne WhatsApp sobald ich zu Hause bin. Passt gut auf euch
auf.“
Mit diesen Worten klopfte sie mir auf die Schulter,
drehte sich um und ging zurück zur Straße. Ich sah ihr noch kurz nach, dann
folgte ich Mick und Sue in die angrenzende Wiese.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sues Gejammere jetzt
ein Ende hätte. Doch sie hatte nun endgültig die Schuhe ausgezogen und lieg
barfuß, was dazu führte, dass sie ständig rumheulte, weil irgendeine Wurzel
oder irgendein Grashalm sie piekte. Erst als Mick anbot, sie huckepack zu
nehmen, war Ruhe und ihre Laune besserte sich schlagartig. Sie kicherte herum,
während Mick mit ihr durch das hohe Gras hüpfte und schnaubte wie ein
buckelndes Pony. Ich schüttelte nur den Kopf und wollte gerade weiter Richtung
Weizenfeld gehen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ich hielt
inne und drehte mich ruckartig in die Richtung. Am Rand der Wiese stand etwas.
Zu weit weg als, dass ich es wirklich erkennen konnte.
„Leute, da ist was.“ Mit einem Mal flüsterte ich, als ich
mich wieder zu meinen Freunden drehte. Es war ein Wunder, dass Mick mich über
ihr Rumgealbere hinweg überhaupt hörte. Mick hielt inne und sah sich um. Als
ich mich ebenfalls wieder in die Richtung wandte, um ihm zu zeigen, wo ich es
gesehen hatte, war der Schatten verschwunden. Mick zuckte mit den Schultern.
„Vermutlich nur ein Reh. Oder vielleicht will Moni uns
einen Streich spielen, dafür, dass wir sie allein gelassen haben.“
Sue kicherte aus seinem Rücken und die beiden setzten
ihren Weg fort. Keine Ahnung weshalb, aber mir war auf einmal der Spaß
vergangen. Ich überlegte sogar kurz, umzudrehen und zu Moni an die Straße zu
laufen, denn irgendwie überzeugte Mick mich nicht. Doch als ich nichts mehr
erkennen konnte im Mondlicht, kam ich mir dennoch dämlich vor und folgte den
beiden weiter in die Wiese hinein. Ich konnte es mir dennoch nicht verkneifen,
mich alle paar Schritte umzusehen. Ein leichter Wind zog auf und das hohe Gras
bewegte sich wie in Wellen. Die anderen Beiden hatten aufgehört herumzutollen
und Mick ging nun langsamer. Die Straße war schon nicht mehr zu sehen. Kurz
bevor wir das abgemähte Weizenfeld erreichen, drehte ich mich nochmal um und da
war es wieder. Auf der anderen Seite der Wiese, am Rand zu dem kleinen
Versorgungsweg baute sich ein massiver Schatten im Mondlicht auf. Es war immer
noch weit weg, doch ich war mir sicher, dass es kein Reh war.
„Mick, da…“ Doch
dann merkte ich, dass auch Mick in die Richtung starrte. Langsam setzte er Sue
ab und kam die paar Schritte zu mir herüber.
„Wie ein Reh sieht das nicht aus, oder?“
Mick nickte langsam. Irgendetwas in mir hoffe, dass es
einfach nur ein Auto war, das dort drüben Stand und in der Nacht einfach
seltsam aussah. Nur wollte ich es mir selbst nicht so ganz glauben. Mick
rempelte mich leicht an.
„Komm, gehen wir weiter. Wir haben noch ein Stück vor
uns.“
Wir wandten uns ab und Sue begann wieder zu jammern, weil
sie selber weitergehen musste. Ich hielt mich selbst davon ab, mich nochmals
umzudrehen und steigerte das Tempo etwas. Ich wollte nur noch so schnell wie
möglich nach Hause. Vielleicht hatte Moni doch recht gehabt, auf der Straße zu
bleiben. Vielleicht spielte mir aber auch nur mein schlechtes Gewissen, dass
wir hier durch die Felder trampelten, einen Streich. Das ehemalige Weizenfeld
war schon mehr Acker als sonst etwas. Schon beim ersten Schritt meckerte Sue
wieder, dass ihr die Füße weh taten, doch Mick ignorierte sie. Zu meinem
Entsetzen bemerkte ich, dass er wieder in die Ferne starrte. Ich wagte kaum den
Kopf zu drehen. Doch als Mick sich gar nicht mehr weiter bewegte, sah auch ich
zum Ende des Feldes hinüber und dort war er wieder. Der Schatten hatte sich mit
uns mitbewegt. Er stand wieder auf gleicher Höhe am Rand des Ackers. Dieses Mal
bemerkte auch Sue, dass dort etwas war.
„Was ist das?“ Sie drängelte sich zwischen Mick und mich.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, gibt es hier eigentlich Wildschweine?“
Der Umriss erinnerte mich am ehesten an einen Keiler, der
massige Körper, der runde Rücken. Doch Mick schüttelte nur den Kopf.
„Ich glaube nicht. Zumindest hätte mein Onkel nie
erwähnt, dass sie hier auch Wildschweine bejagen.“
Wir standen einfach nur da und starrten den Schatten an.
Ich weiß nicht wie lange, doch wir wagten nicht mehr ihn aus den Augen zu
lassen. Und dann bewegte er sich. Zuerst kaum merklich, als würde was immer
dort auf der anderen Seite des Feldes war, ein paar ungelenke Schritte vorwärts
machen. Dann wurde es immer schneller. Es dauerte etwas, bis wir es begriffen,
doch was immer es war, es rannte nun direkt auf uns zu und es war schnell,
verdammt schnell. Mick war der erste, der sich aus der Starre löste.
„Wir…wir sollten machen, dass wir hier wegkommen!“ Er gab
mir einen leichten Stoß in die Rippen und das reichte auch, dass ich verstand,
was da gerade passierte. Ich drehte mich in Richtung Maisfeld, packte Sue am
Handgelenk und schrie: „Lauf!“
Mick hatte schon einige Meter Vorsprung. Ich ließ Sues
Arm nicht los und zog sie mit mir über das Feld. Alleine wäre ich sicher
schneller gewesen, doch irgendetwas sagte mir, dass sie es allein nicht geschafft
hätte. Sue schluchzte hinter mir. Vermutlich nur zum Teil aus Angst, denn die
Reste der Weizenstengel stachen sicherlich ihre nackten Füße blutig. Aber
darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Es war nah und es war riesig. Es war
immer noch wenig mehr als ein unförmiger schwarzer Fleck in der Dunkelheit. Ich
wagte nicht den Kopf weiter zu drehen, um genauer hinzusehen. Zum einen wollte
ich nicht riskieren auf dem unebenen Acker zu stolpern, zum anderen wollte ich
es gar nicht wirklich sehen. Ich konnte es schon hören. Sein Atem war laut und
kam stoßartig im Rhythmus seiner Galoppsprünge. Und der Wind trug seinen Geruch
zu uns herüber. Zumindest glaubte ich, dass das was ich roch, das Ding war, das
auf uns zu hielt. Es roch plötzlich nach grünem Holz, frisch gemähtem Gras und
warmen Heu.
Mick erreichte die erste Reihe Maisstauden und verschwand
mit einem lauten Krachen in der grünen Wand. Die ersten Stauden knickte er um,
dann verschwand er stolpernd und fluchend im Feld. Als auch wir das nächste
Feld erreichten, ließ ich Sues Handgelenk los. Der Mais stand dicht an dicht,
wir hatten nur einzeln eine Chance uns unseren Weg hineinzubahnen. Ich konnte
Mick vor uns durch das Feld krachen hören. Hinter mir schluchzte Sue vor sich
hin, hielt jedoch mit mir Schritt. Wir rannten und rannten, bis mein Hirn
wieder einschaltete. Ich hörte Mick vor mir und ich hörte Sue hinter mir und
das war es. Was immer da über das Feld auf uns zu gerannt war, war uns nicht in
den Mais gefolgt. Eine Kreatur von der Größe hätten wir gehört. Außerdem hätte
sie uns bei der Geschwindigkeit mit der sie über den Acker gekommen war, längst
eingeholt.
„Mick! Mick bleib stehen! Es verfolgt uns nicht mehr!“ Meine
Stimme war rau und heißer. Ich merkte wie mir die zwei Bier zu Kopf stiegen
nach der plötzlichen Anstrengung und wie die Maisstauden um mich herum zu
taumeln begannen. Sue prallte gegen meinen Rücken. Es kostete mich alle Selbstbeherrschung
nicht einfach umzukippen und mich zu übergeben. Sie krallte sich an meinem Arm
fest und kreischte mir direkt ins Ohr.
„Was war was? Was zur Hölle war das? Oh Gott, was war
das?“
Ich wusste es nicht. Die Welt um mich herum drehte sich
und ihre Hysterie half mir auch nicht gerade. Etwas bewegte sich direkt vor
uns. Die Blätter an den Stauden raschelten und Sue begann noch lauter zu
Schreien.
„Halt doch deine dumme Schnauze!“ kam es aus dem Dunkeln.
Mick tauchte zwischen den Stauden vor uns auf. „Kreisch doch noch ein wenig
lauter, vielleicht entscheidet sich das Ding dann doch anders und kommt uns
doch noch hinterher!“
Sue verstummte hinter mir. Nur noch das unterdrückte
Schluchzen war zu hören. Es gab mir eine gewisse Genugtuung zu sehen, dass Mick
genau so schwer atmete wie ich. Wir standen einfach nur da und lauschten in die
Nacht. Doch außer meinem eigenen Herzschlag, der mir in den Ohren dröhnte nach
dem Spurt und unserem Atem gab es kein Geräusch. Es dauerte eine gefühlte
Ewigkeit, bis jemand wieder wagte, etwas zu sagen. Es war Sue, doch diesmal
hatte sie sich unter Kontrolle und ihre Stimme war ein stockendes,
halbersticktes Flüstern.
„W-w-wieso ist, ist es draußen geblieben? Meint… meint
ihr, es wartet auf uns?“
Ich wollte schon mit den Schultern zucken, weil ich keine
Antwort wusste, doch dann kam mir ein Gedanke, bei dem sich mein Magen zusammenkrampfte.
„Moni ist draußen auf der Straße“, stammelte ich. Die
anderen beiden sahen mich an und begriffen sofort. Mick wurde so blass, dass
sich sein Gesicht wie eine Maske vor dem dunklen Hintergrund abhob und Sue
schlug beide Hände vor den Mund, um einen erneuten Schrei zu ersticken. Die
Maisstauden waren kein unüberwindbares Hindernis für was immer es gewesen sein
mochte. Doch das Mädchen, das einsam und allein draußen auf der offenen Straße
entlang ging, war das deutlich einfachere Ziel.
„Das ist doch Scheiße!“ Mick wurde plötzlich hektisch und
begann seine Hosentaschen abzutasten. „Ich ruf jetzt die Cops oder sonst
irgendwen an. Mein Onkel soll kommen und das Vieh abballern. Mir egal wessen
Jagdrevier das hier ist.“
Mit einem Mal erschien Rettung in Sicht. Mick hatte
recht. Ich zog ebenfalls mein Handy aus der Tasche. Scheiß auf den Anpfiff
unserer Eltern und vom alten Mesner, wir würden uns Verstärkung holen. Während
ich noch mit zitternden Fingern mein Display entsperrte, zeichnete sich die
Beleuchtung von Micks Handy schon auf seinem Gesicht ab und er durchsuchte
seine Kontaktliste. Die Displaybeleuchtung fesselte unsere Blicke, wie eine
Lampe die Motten anzog. Keiner bemerkte, dass sich die Maisstauden hinter Mick
zur Seite bogen und mit einem Mal war es da. Mit einem Geräusch, das halb
Knurren und halb Fauchen war, sprang es Mick in den Rücken und schleuderte ihn
zu Boden. Sue begann wieder zu kreischen und rannte blindlings los. Dabei
verpasste sie mir einen derartigen Stoß, dass ich auf die Knie fiel. Die
Blätter der Maisstauden zerschnitten mir die Wangen und mein Handy verschwand
irgendwo im Dunkeln auf dem Boden.
Mick schrie. Ein Geräusch, wie ich es noch nie zuvor in
meinem Leben gehört hatte. Er lag auf dem Bauch, schlug mit den Fäusten auf die
Erde und die Kreatur stand über ihm und hielt mit seinen riesigen,
krallenstarrenden Pranken seine Oberschenkel fest. Die Klauen bohrten sich
durch Micks Hose und sein Fleisch. Das Blut quoll schwarz durch den Stoff. Die
Kreatur war riesig. Ich hatte noch nie auch nur etwas annähernd Vergleichbares
gesehen. Dicke stämmige Beine mit kurzen schwarzen Borsten bedeckt und einen
Buckel, der mich an eine Hyäne denken ließ. Ein breiter Hals, mit einer
tiefhängenden Wamme. Doch das Schlimmste war der Kopf. Es hatte keine Augen,
keine Ohren und in der Dunkelheit sah es auch so aus, als hätte es kein Fleisch
am Kopf. Nur ein Schädel über dem sich vertrocknete Haut spannte. Zu meiner
Verwirrung hatte das ding auch keine Zähne im Maul. Nur die zertrümmerten
Kiefer schienen direkt aus der toten Haut herauszuragen. Es gab nochmals diesen
eigenartigen knurrenden Laut von sich, hob die geöffnete Schnauze Richtung
Himmel und dann biss es zu. Sein Oberkiefer umschloss Micks linke Seite und der
Unterkiefer bohrte sich hinter der Wirbelsäule in seinen Rücken. Mit
Leichtigkeit zerteilte es Micks Körper, während dieser weiter schrie und schrie
und schrie. Ich konnte hören, wie sein Fleisch riss, wie seine Rippen und das
Rückgrat brachen unter dem Druck der gewaltigen Kiefer. Mick hob ein letztes
Mal den Kopf und starrte mich direkt an. Ich saß noch immer weniger Meter von
dem Monster, das gerade meinen besten Freund zerfleischte au dem Boden und
hielt die Luft an. Erst als ich Micks weit aufgerissene Augen sah und den Mund,
der nur noch zu einem stummen Schrei aufklaffte, wurde mir klar, was da gerade
passierte. Ich musste weg. Ich musste weg, so lange es noch mit Mick
beschäftigt war. Ich kroch die ersten Paar Meter rückwärts auf allen Vieren
durch den Mais, dann rappelte ich mich auf und rannte los. Ich musste raus aus
diesem verfluchten Feld, hoch zur Bundesstraße. Neben dem Feld lag ein kleiner
Versorgungsweg, dann noch eine kleine Wiese, keine zwanzig Meter breit. Über
den Graben, die Böschung hoch und über die Leitplanke hoch auf die
Bundesstraße. Auf der anderen Seite begann sofort die Siedlung. Irgendjemand musste
mir die Tür auf machen, irgendjemand musste mich reinlassen und mir helfen und
hinter mir konnte ich in immer größer werdender Ferne noch immer hören, die
Micks Knochen brachen, wie Stoff zerrissen wurde.
Mit einem Mal fielen mir Sue und Moni wieder ein. Sue
rannte kopflos in eine vollkommen falsche Richtung durch das Feld und Moni
stand draußen noch immer als leichte Beute auf der Straße. Ich wurde etwas
langsamer, während ich mich Reihe um Reihe durch die Maisstauden schob. Konnte
ich wirklich so ein Schwein sein und sie einfach ihrem Schicksal überlassen?
Ich hatte doch ohnehin keine Chance gegen dieses Vieh. Selbst wenn ich bei
ihnen war, könnte ich ihnen nicht helfen, sondern nur zu sehen, wie dieser
grauenvolle skelettartige Schädel ohne Zähne auch sie zerriss und beten, dass
ich nicht der nächste war. Ich würde Hilfe holen. Sobald ich in Sicherheit war,
würde ich die Polizei rufen.
Ich stockte. Irgendetwas war plötzlich anders. Und dann
begriff ich. Es war wieder still. Eine unglaubliche Panik hob in mir an. Wenn
es mit Mick fertig war, bedeutete das, es war wieder hinter uns her. Ich rannte
nicht mehr kopflos durch die Nacht, auch wenn ich es am Liebsten getan hätte.
Ich bewegte mich schnell, aber versuchte so wenige Geräusche dabei zu
verursachen, wie möglich. Rechts von mir brachen mehrere Maisstauden. Ich
wollte schon losrennen, bevor ich bemerkte, dass das Geräusch nicht in meiner unmittelbaren
Nähe war. Dann folgte das Schreien.
Sue schrie irgendwo in den Tiefen des Feldes und es war
nicht ihr übliches hysterisches Gekreische, wenn sie sich erschreckte. Sie
schrie aus tiefster Todesangst und vor Schmerzen.
Ich begann wieder zu rennen. Aus unzähligen kleinen
Schnittwunden rann das Blut meine Arme hinab, als wäre der Mais mit kleinen
Rasierklingen bestückt. Ein seltsames feuchtes Knirschen war im ganzen Feld zu
hören und aus dem Schrei wurde ein ersticktes Röcheln und dann war es wieder
still.
Ich versuchte durch das Feld zu schleichen, als Sue
verstummt war. Mein Atem kam nur noch kurz und stoßweise über meine Lippen. Ich
hechelte wie ein Hund und versuchte verzweifelt zu hören, wo die Kreatur sich
gerade befand. Doch nichts. Die Nacht war mit einem Mal totenstill geworden.
Dann drang ein Rauschen an mein Ohr. Es kam direkt von
vorne. Zuerst wollte ich umdrehen, zurück tiefer in den Mais rennen, doch dann
begriff ich. Es war ein LKW, der oben auf der Bundesstraße vorbeifuhr. Ich war
so dicht dran, das Feld musste bald zu Ende sein. Ich tastete mich langsam vor,
Schritt für Schritt. Mein Kopf zuckte hektisch von einer Seite zur anderen,
immer auf der Suche nach etwas, das die Anwesenheit der Kreatur ankündigte.
Doch da war nichts.
Nur wenige Reihen vor mit konnte ich den Kiesweg durch
die Maisstauden schimmern sehen. Im Mondlicht wirkte er beinahe weiß. Ich
zögerte.
Dort draußen würde sie mit Sicherheit auf mich lauern.
Sobald ich auch nur einen Finger aus dem Mais hinausstreckte, würde sie da sein
und mich packen. Ich kauerte mich hinab auf alle Viere und kroch näher an das
Ende des Feldes heran. Ich konnte alles sehen. Den Weg, die Wiese, den Graben… was,
wenn es im Graben hockte und auf mich wartete, was wenn… Aus dem Augenwinkel erspähe
ich etwas, das links von mir auf dem Weg kauerte. Ich wollte schon umdrehen und
wegrennen, als mir bewusst wurde, dass es nicht die Kreatur war. Es war zu
klein, zu flach. Als ich erkannte, was es war, wurde mir wieder schlecht. Es
war Sue.
Oder besser gesagt, was von ihr übrig war. Sie lag auf
dem Rücken. Ein Teil ihres linken Beins fehlte und auch der Unterkiefer war aus
ihrem Schädel gerissen worden. Ihre Augen starrten regungslos in den
Nachthimmel. Ich presste beide Hände fest auf meinen Mund. Sie lag einfach da
und… und… in meinem Hirn begann es zu rattern. Sie lag links von mir auf dem
Weg. Links. Sie war vorher nach rechts gerannt, ich hatte sie rechts im Feld
schreien hören. Es war unmöglich, dass sie sich so weit über den Feldweg
geschleppt hatte, noch dazu ohne Spuren zu hinterlassen. Es war kein Blut auf
dem Weg.
Es war hier. Es hatte auf mich gewartet und jeden Moment
würde es…
Ich wartete nicht mehr. Ich drückte mich vom Boden ab wie
ein Sprinter beim 100m Lauf und rannte los mit allem was mein zerschundener
Körper noch geben konnte. Ich brach durch die letzten beiden Reihen
Maisstauden, schoss hinaus auf den Weg und hinüber auf die Wiese. Noch bevor
ich beide Füße im Gras hatte, hörte ich es. Der Mais krachte und etwas
Schweres, Schnelles sprang auf den Kiesweg. Ich drehte mich nicht um. Ich
wollte nicht sehen, wie nah es schon war, wie schnell es aufholte. Ich begann
zu schreien und zu weinen und rannte, rannte mit allem was ich hatte. Ich würde
es nicht schaffen.
Vor mir klaffte der Graben auf und etwas berührte meinen
Arm. Wie scharfe Messer schnitt es durch meinen Unterarm, durch meine Hand. Ich
kam ins Taumeln. Mit letzter Kraft warf ich mich in einem Hechtsprung Richtung
Graben. Ich schlug der Länge nach auf der Böschung auf. Etwas durchbohrte meine
rechte Wange. Ich schmeckte Blut und Dreck.
Es hatte mich. Es hatte mich erwischt. Ich blieb liegen, drückte
mein Gesicht in den Dreck, kniff die Augen zu und wartete darauf, dass die
Kiefer meine Rippen zertrümmerten, wie sie es bei Mick gemacht hatten.
Doch nichts passierte. Zitternd und während mir der Rotz
aus der Nase lief, wagte ich es langsam den Kopf zu heben. Ich lag immer noch
auf der anderen Seite des Grabens. Wenige Meter über mir glänzte die Leitplanke
im Mondlicht. Ich rollte mich auf den Rücken und da war es wieder. Nur etwas
zwei Meter vor mir, auf der anderen Seite des Grabens stand es. Aufgebracht
trat es von einem Vorderbein aufs andere, sperrte immer wieder drohend sein
bluttriefendes Maul auf und fauchte. Doch es setzte keine Pranke in den Graben.
Ich begann langsam mich rücklings die Böschung
hochzuschieben. Ich wagte nicht, den Blick von ihm abzuwenden, aus Angst es
könnte es sich doch noch anders überlegen und mir folgen. Nach einigen Sekunden
schüttelte das Biest seinen gewaltigen Schädel und die Wamme an seinem Hals
schlackerte hin und her und es wandte sich von mir ab und trottete über die
Wiese davon. Das war der Augenblick in dem ich mich umdrehte und so schnell ich
konnte die Böschung hochkroch. Erst als ich bereits ein Bein über die
Leitplanke hatte, warf ich noch einen Blick zurück.
Die Kreatur stand unten auf dem Feldweg neben dem, was
noch von Sue übrig war und hatte den Kopf in meine Richtung gedreht. Als hätte
es darauf gewartet, dass ich mich nochmal zu ihm umsah. Mit einem dumpfen
Knurren schnappte es noch einmal zu, packte Sues Kopf und zerrte ihren Körper
mit sich ins Maisfeld.
Das Geräusch, als Sues Schädel von seinen Kiefern
zermalmt wurde, gab mir den Rest. Die Welt um mich herum wurde grau und ich
verlor das Bewusstsein.
Als ich die Augen wieder öffnete war es hell, zu hell.
Ich lag in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer. In meinem Kopf drehte
sich alles. Mein ganzer Körper tat weh und ich begriff zuerst nicht, was vor
sich ging. Das erste was ich erkannte, war meine Mutter, die neben dem Bett auf
einem Stuhl saß. Als sie bemerkte, dass meine Augen offen waren, sprang sie
auf, drückte sich dicht neben das Bett und legte mir eine Hand auf die
Schulter.
„Du bist wach, Gott sei dank du bist wieder wach. Alles
ist gut, Schatz, du bist im Krankenhaus.“
Meine Gedanken begannen zu schwimmen. Die Welt um mich
herum begann zu flackern und immer wieder grau zu werden. Es war schwer einen
klaren Gedanken zu fassen. Sue und Mick waren weg und ich lag hier und… und…
„Moni?“ war alles, was ich mit krächzender Stimme
hervorbrachte. Meine Mutter schien kurz verwirrt. Doch dann drückte sie meine
Schulter etwas fester.
„Sie ist an dem Abend ganz normal nach Hause gekommen,
ihr geht es gut. Aber was ist mit euch passiert, wo sind…“
Den Rest des Satzes verstand ich bereits nicht mehr. Es
hatte mich schon alle Kraft gekostet, den Anfang noch mitzubekommen. Ich
dämmerte wieder weg.
So ging es die folgenden Tage. Wann immer ich zu wach
wurde, bekam ich Panikattacken und begann zu schreien, deshalb bekam ich etwas
zur Beruhigung. Ich wachte auf und jemand stand an meinem Bett. Mal meine
Mutter, mal mein Vater oder mein älterer Bruder. Wir wechselten ein paar Worte
und ich sackte wieder zurück in meinen Halbschlaf. Am dritten oder vierten Tag,
ich weiß es nicht genau, ich hatte kein Zeitgefühl mehr, stand dort jedoch
jemand, den ich nie im Leben erwartet hätte. Der alte Mesner stand am Fußende
meines Bettes und starrte auf mich hinab. Mit einem Mal war ich hell wach, so
wach wie seit dieser Nacht nicht mehr und ich hatte Angst. Er wusste es, da war
ich mir sicher. Er würde mich anschreien, er würde mich vielleicht sogar
schlagen. Wieso hatte man ihn überhaupt zu mir gelassen? Doch er tat nichts, er
stand einfach nur da und sah mich an. Als er schließlich sprach, war seine
Stimme leise und ruhig.
„Du und deine Freunde, die beiden, die keiner gefunden
hat, ihr seid in der Nacht über meine Felder gelaufen, oder?“
Ich zitterte am ganzen Körper, doch ich brachte ein halbes
Nicken zustande. Noch immer schrie er mich nicht an. Stattdessen kniff er die Augenlider
fest zu und seine dicken wulstigen Lippen begannen zu zittern.
„Gott, habe ich euch nicht genug Angst gemacht? Was muss
ich noch tun, damit sich alle von den Feldern fernhalten?“ Es klang beinahe wie
ein Schluchzen. Mein umnebeltes Gehirn verstand nur die Hälfte von dem was er
sagte, doch eines wurde mir klar.
„Sie…Sie wissen von dem Ding? Haben Sie es dort, damit
niemand Ihre Felder zertrampelt?“
Sein Blick schnellte wieder zurück zu mir und ich zuckte
zusammen. Aber er war noch immer nicht wütend. Die glasigen Augen in dem
zerfurchten Gesicht wirkten traurig und erschrocken.
„Nein, nein, nein, Junge. Nein. Es war schon immer da,
seit ich denken kann und auch davor. Schon mein Großvater hat erzählt, dass man
ihn als Kind davor gewarnt hat und auch ich muss mich vor ihm in Acht nehmen,
wie meine ganze Familie.“
Er schluckte schwer bevor er fortfuhr.
„Wenn ich zu früh mähe, kommt es nachts und zerstört die
Maschinen und greift das Haus an. Wenn ich falsch pflanze, verwüstet es die
Saat. Als ich neun war, beschloss mein Onkel, dass er sich nicht mehr von einem
Dämon, so nannte er es, vorschreiben lässt, wie er seine Felder bewirtschaftet.
Er nahm sein Jagdgewehr und fuhr mit dem Traktor und dem Mähwerk hinaus aufs
Feld, als die Dämmerung begann. Das Einzige was man am nächsten Morgen fand,
war das kaputte Gewehr am Feldrain. Weder von meinem Onkel noch von der
Maschine sah man je wieder etwas.“
Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, knetet mit
seinen schwitzigen Händen die Front seines dreckigen Hemdes und drehte sich
immer wieder zur Tür um, als hätte er Angst, jemand könnte plötzlich reinkommen.
Seine letzten Worte flüsterte er beinahe: „Die Polizei wird bald zu dir kommen.
Sie suchen noch immer nach deinen Freunden. Ich flehe dich an. Deine Freunde
kannst du nicht mehr retten, die sind für immer weg. Aber wenn du die anderen
retten willst, all die anderen, die nach ihnen suchen werden… egal was du ihnen
erzählst. Bitte, ich bitte dich, sorge dafür, dass sie sich von den Feldern fernhalten."