Samstag, 17. August 2019

Bavaria infernalis - Mond über den Feldern



Jung sein auf dem Dorf hat so seine Nachteile. Einer der größten ist wohl, dass die Verkehrsverbindungen zu wünschen übriglassen. Kein Bus und keine Straßenbahn, die einen alle fünf Minuten durch die Gegend kutschieren. Wer keinen Kumpel mit Führerschein hat, hat hier draußen eindeutig die Arschkarte gezogen. Wir hatten keinen volljährigen Kumpel und waren somit am Arsch. Besonders an Abenden wie diesem, an denen weiter draußen eine Party stieg. Also gab es zwei Möglichkeiten, laufen oder sich mit dem Bike abstrampeln. Nicht hingehen war keine Option. Für die große Party am Ausee heute Abend, entschieden wir uns für die Bikes. Zum Laufen wäre es zu weit gewesen, vor allem weil die Mädels sich schick machen und die schönen Schuhe anziehen wollten.
Wir trafen uns an der Tankstelle. Mick und ich hatten unseren Eltern als Ausrede erzählt, wir würden bei seinem Onkel zelten. Keine Ahnung, was die Mädels zu Hause erzählt hatten. So wie die zwei aufgedonnert waren, hätte ihnen die Zeitgeschichte zumindest niemand abgenommen. Mick war als erster an der Tanke und wartete schon auf uns, als wir ankamen. Er lehnte auf dem Lenker seines Mountainbikes und grinste breit, als die Mädchen hinter mir in die Zufahrt bogen. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie näherkamen.
„Hey Sue, wofür hast du dich so angemalt? Das ist eine Sommerparty am See und nicht das Casting zu Bayerns next Superclown.“
Sie ignorierte ihn und schob ihr Rad an ihm vorbei. Ich unterdrückte ein Lachen. Ja, Sue sah wirklich schon fast lächerlich aus. Aber es war keine gute Idee, sie zu verärgern, wenn man nicht wollte, dass sie uns den restlichen Abend die Stimmung verdarb. Hinter ihr dackelte wie immer Moni einher. Sie war eine kleinere, blassere Kopie von Sue. Dieselbe Art, derselbe Style, nur alles etwas farbloser und etwas weniger laut und aufdringlich.
„Wollen wir noch versuchen, etwas Schnaps und ein paar Kippen zu holen?“ schlug ich vor, um das Thema zu wechseln. Am See würden sie uns dafür mit Sicherheit feiern. Doch Mick schüttelte den Kopf.
„Kannste vergessen. Die alte Reinhart steht an der Kasse, da kriegen wir höchstens ein Päckchen Kaugummis.“
Ich seufzte. Es wäre schon cool gewesen, dort mit einer Flasche Vodka auftauchen zu können. Hätte Micks Cousin gearbeitet, wäre das auch kein Problem gewesen. Ebenso wie die Kippen. Doch so würden wir eben mit leeren Händen aufschlagen, unsere fünf Euro Eintrittsgeld abgeben und in der Menge verschwinden. Sue schob ihr Rad demonstrativ an uns vorbei, zurück in Richtung Straße.
„Können wir dann endlich los? Wir verpassen noch den ganzen Spaß, wenn wir hier noch lange rumtrödeln.“
Mir war absolut klar, wieso sie es so eilig hatte. Die anderen Mädels hatten ihr gesteckt, dass dieser eine Typ, der Asiate vom Gymnasium dort sein würde. Keine Ahnung wie der hieß und wieso die alle auf den abfuhren. Aber Sue hatte eindeutig Angst, dass sich eine andere ihm an den Hals warf, bevor sie die Chance dazu hatte. Also nickte ich nur. Mick und Moni hatten keine große Meinung dazu, aber auch sie rollten mit ihren Bikes runter zur Straße. Wir überquerten die Bundestraße und traten in die Pedale. Luftlinie war der See eigentlich gar nicht so weit weg von der Tankstelle und der dahinter liegenden Siedlung. Doch die kleine Nebenstraße schlängelte sich zwischen den unzähligen Feldern hindurch und zog die Fahrt so auf beinahe eine Viertelstunde hin. Im Vorbeifahren fiel mir auf, wie hoch der Mais bereits stand. Er überragte uns bereits deutlich und man konnte nicht mehr sehen, was auf der anderen Seite des Feldes lag. Das Weizenfeld war bereits abgeerntet, die Wiese stand fast hüfthoch neben der Straße. Doch der Großteil des Weges wurde von den riesigen Maisfeldern eingerahmt.
Ich überlegte kurz, ob wir ein paar Maisstauden ausreißen und mitnehmen sollten. Vielleicht war der Mais schon reif genug, um ihn über dem Feuer zu grillen. Doch es war gerade Mal 19 Uhr und das Risiko, dass uns jemand mit dem Mais sah, war mir dann doch zu groß. Vor allem weil diese Felder dem alten Mesner gehörten. Einem furchtbar unangenehmen Zeitgenossen, der einen schon Mal mit dem Traktor verfolgte, wenn er einen auf seinen Feldern erwischte. Der Typ war echt gestört. Deshalb mieden wir soweit es ging, sogar die Wege zwischen den Feldern. Man konnte nie wissen, wann er hinter den hohen Maisstauden plötzlich um die Ecke bog und anfing, einen anzuschreien und aufs Übelste zu beschimpfen. Es gingen sogar Geschichten um, dass er schon mal jemanden in seiner Wut erschlagen und in den Feldern versteckt hatte. Mein Dad sagte, das sei dummes Geschwätz, der alte Mesner sei einfach nur ein cholerischer Säufer, der den Leuten zwar gern einen riesigen Schrecken einjagte, aber niemandem etwas zu Leide tat.
Ich wollte es nicht wirklich ausprobieren und selbst jetzt, wo wir uns auf der Teerstraße befanden, trat ich unwillkürlich schneller in die Pedale, bis wir den kleinen Bach überquert und die Felder hinter uns gelassen hatten.

Als wir den See erreichten, war die Party bereits in vollem Gange. Es waren Ferien und es hatte sich rumgesprochen, dass heute hier etwas los war. Auf dem Parkplatz standen sogar ein paar Autos mit auswärtigem Kennzeichen. In den Zeiten von social Media eigentlich nicht mehr verwunderlich. Da wusste ja jeder von jeder Party rund um die Welt. Wir lehnten unsere Bikes an einen der Bäume und stürzten uns ins Getümmel. Es waren sicher um die 40 Leute da.
Mich wunderte etwas, dass so eine große Party nicht kontrolliert wurde. Aber das war eben einer der Vorteile hier draußen. Wenn wir nicht die Felder abfackelten und den Bereich am See nicht komplett verwüsteten, krähte kein Hahn danach, was wir hier trieben. In den Grillplätzen brannten schon die Feuer, es wurden Kühlboxen mit Bier und Cola herumgeschleppt und ein paar Leute sprangen noch im See herum.
Sue scannte bereits den ganzen Bereich nach ihrem Schwarm ab und war schon nach wenigen Minuten mit Moni im Schlepptau verschwunden. Für Mick und mich standen andere Dinge im Vordergrund. Wir machten uns auf die Suche nach Semi, er war es immer, der diese Partys organisierte und auch das Geld einsammelte. Eine Dose Bier, ne fette Grillwurst und am See sitzen und über Sport quatschen, war alles, was wir im Sinn hatten. Wir hatten eine schöne Zeit, fachsimpelten mit Schulkollegen und Kumpels aus dem Sportverein darüber, welche Transfers die Clubs machen müssten, um in der Bundesliga vorn mitzuspielen, die Verantwortlichen hatten da selbstverständlich weniger Ahnung als wir. Wir tranken, aßen, lachten und fanden die Party spitze, bis es begann langsam dunkel zu werden. Dann begann die Stimmung langsam zu kippen.
Den ersten Zoff gab es drüben bei den Grillplätzen. Keine Ahnung wieso, plötzlich begannen sie rumzuschreien, bauten sich vor einander auf und schubsten sich gegenseitig hin und her. Bevor das ganze eskalierte und sie sich wirklich aufs Maul hauten, ging Semi brüllend dazwischen und drohte den Beteiligten mit der Polizei, wenn sie sich nicht sofort verzogen. Die Streithammel warfen sich noch ein paar wütende Blicke zu, dann traten beide den Rückzug an und verschwanden auch von der Party. Kurz darauf hörte man vom Parkplatz die Motoren heulen und ein paar Leute schlitterten mit durchdrehenden Reifen auf die Straße.
Ich war froh, dass es so glimpflich abgegangen war. Auch wenn Mick mich damit gerne aufzog, ich habe mich noch nie geprügelt und wäre auch sehr froh, es so belassen zu können. Aber nach diesem Zwischenfall war irgendwie der Wurm drin. Immer mehr Leute kriegten sich in die Haare und verließen die Party. Kurz vor halb elf ließ Semi die Grillfeuer löschen nachdem ein paar Betrunkene begonnen hatten, sich mit den glühenden Holzscheiten zu bewerfen. Nach und nach verschwanden die Partygäste, oft begleitet von lautem Gegröle und Scheppern, wenn sie versuchten ihre Fahrräder auf die Straße zu schieben und dabei über die eigenen Füße stolperten. Von unseren Mädels fehlte immer noch jede Spur. Nicht dass ich mir Sorgen gemacht hätte.
Mick und ich streiften über die Wiese und kontrollierten die Kühlboxen, ob noch irgendwo ein Bier zu finden war, als Sue auf uns zu gestapft kam. Das erste was ich sah, was das dicke Make-up, das über ihr Gesicht hinab lief. Zuerst dachte ich, sie hätte geweint, doch dann bemerkte ich, dass alles an ihr tropfte. Ihre Schuhe trug sie in der linken Hand und sie kochte vor Wut. Mick kicherte und ließ den Deckel einer leeren Kühlbox zuschlagen.
„Wenn du ne Poolsession einlegen willst, solltest du’s nächstes Mal mit wasserfester Schminke versuchen.“
Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde ihre Schuhe nach ihm werfen oder anfangen, mit ihnen auf ihn einzuschlagen. Doch Sue zitterte nur vor Wut. Ihre Stimme war dick belegt und es klang als würde sie gleich losheulen.
„Lasst uns fahren, ich will weg.“
Ein schneller Blick über die Schulter zu Mick zeigte mir, dass es ihm egal war. Moni würde machen, was immer wir beschlossen. Also nickte ich, die Party war eigentlich eh schon gelaufen. Während die anderen schon mal zu den Rädern gingen, verabschiedete ich mich noch schnell von Semi. Es war kurz vor 23 Uhr und das einzige Licht am See kam vom Mond. Mit den richtigen Leuten wäre es noch richtig cool gewesen, aber die Stimmung war dahin. Also beeilte ich mich, die anderen einzuholen. Zu meiner Verwunderung standen sie zwischen den Bäumen und leuchteten mit den Lampen ihrer Smartphones die Gegend ab. Zumindest Moni und Mick, ich schätze Sues Handy war im See abgesoffen bei was immer da passiert sein mochte.
Bevor ich fragen konnte, was los war, erkannte ich das Problem. Von den vier Bikes lehnte nur noch das von Mick an dem Baum und das mit platten Reifen. Die anderen drei waren weg. Ich fluchte leise. Plötzlich verschwand Mick auf dem kleinen Hang der zum Kanal runter ging und zerrte schließlich die Überreste von Sues Fahrrad aus dem Gestrüpp. Der Sattel und die Reifen waren aufgeschlitzt, die Felgen waren verbogen. Das ganze Ding war Schrott.
Für Sue war das jetzt zu viel. Sie fing an zu heulen und schrie nur noch, dass sie keine Lust mehr hatte und weg wollte. Ein kurzer Rundumblick zeigte, dass die Möglichkeiten begrenzt waren. Die Autos waren weg, es stand nur noch ein Roller und vereinzelte Fahrräder herum. Doch anders als wir, waren die Anderen so schlau gewesen, ihre Räder abzusperren. Also blieb nicht viel übrig, als sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen.
Es war totenstill auf der Straße bis auf das immer wieder ausbrechende Gejammer von Sue. Die letzten Geräusche von der Party waren schnell von den umliegenden Bäumen verschluckt worden und außer uns war niemand unterwegs um diese Uhrzeit. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir auch nur die Brücke über den Bach erreicht hatten. Keiner von uns machte sich die Mühe die Uhrzeit auf dem Handy zu checken. Vermutlich hätte uns das nur noch mehr frustriert.
Wir machten auf der Brücke kurz Rast. Während Sue weiter vor sich hin jammerte, dass ihre Füße weh taten und ihre Eltern sie wegen dem Fahrrad umbringen würden und wie sie das alles erklären solle, ließ ich meinen Blick die Straße entlang wandern, bis dahin, wo sie zwischen den Maisfeldern nicht mehr zu sehen war. Mick lehnte neben mir an dem Brückengeländer.
„Wie wäre es mit einer Abkürzung,“ schlug er plötzlich vor. Ich sah ihn verwundert an, doch er starrte immer noch in die Ferne. „Wenn wir einfach quer durch die Felder gehen, sparen wir uns garantiert mindestens eine Viertelstunde, wenn nicht sogar mehr.“
Die Mädels hinter uns wurden still. Ich konnte nicht wirklich glauben, dass Mick den Vorschlag wirklich gemacht hatte. Natürlich hatte er recht. Wenn wir querfeldein liefen, wäre der Weg deutlich kürzer. Zu meiner Überraschung war es Moni, die sich als erstes äußerte.
„Vergiss es, auf keinen Fall. Wenn der Mesner dahinter kommt…“
„Wie soll er das denn?“ fiel Mick ihr höhnisch ins Wort. „Der Alte hat sich schon längst in den Schlaf gesoffen und er wird ja wohl kaum Fallen in seinen Feldern verstecken. Also gibt’s keinen Ärger, wenn wir einfach alle die Schnauze halten morgen früh.“
Moni schüttelte immer noch entschlossen den Kopf.
„Ich setz da keinen Fuß rein!“
Mick sah Sue und mich an. Sue schob ihre verschmierte Unterlippe trotzig vor.
„Mir ist alles recht, was mich schneller ins Bett bringt. Stell dich nicht so an Moni, wir gehen durch die Felder.“
Nach kurzem Überlegen nickte ich zur Zustimmung. Was sollte schon groß passieren. Wir trampelten etwas Wiese nieder, knickten vielleicht ein paar Maisstauden, aber der Mesner würde sicherlich nicht nachts durch seine Felder patrouillieren und er würde auch nicht die Kripo einschalten, um am nächsten Tag unsere Spuren auswerten zu lassen. Nur Moni weigerte sich weiterhin, egal was wir sagten. Sie begleitete uns bis an den Rand der Wiese.
„Willst du wirklich nicht mitgehen? Ich meine, so ganz allein auf der Straße nachts…“ Sie lächelte mich an und schüttelte entschlossen den Kopf.
„Allein auf der Straße fühl ich mich wesentlich sicherer, als da drin.“ Sie zeigte nach vorn auf das Maisfeld. „Mach dir keine Sorgen, Toni, ich schreib euch ne WhatsApp sobald ich zu Hause bin. Passt gut auf euch auf.“
Mit diesen Worten klopfte sie mir auf die Schulter, drehte sich um und ging zurück zur Straße. Ich sah ihr noch kurz nach, dann folgte ich Mick und Sue in die angrenzende Wiese.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sues Gejammere jetzt ein Ende hätte. Doch sie hatte nun endgültig die Schuhe ausgezogen und lieg barfuß, was dazu führte, dass sie ständig rumheulte, weil irgendeine Wurzel oder irgendein Grashalm sie piekte. Erst als Mick anbot, sie huckepack zu nehmen, war Ruhe und ihre Laune besserte sich schlagartig. Sie kicherte herum, während Mick mit ihr durch das hohe Gras hüpfte und schnaubte wie ein buckelndes Pony. Ich schüttelte nur den Kopf und wollte gerade weiter Richtung Weizenfeld gehen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ich hielt inne und drehte mich ruckartig in die Richtung. Am Rand der Wiese stand etwas. Zu weit weg als, dass ich es wirklich erkennen konnte.
„Leute, da ist was.“ Mit einem Mal flüsterte ich, als ich mich wieder zu meinen Freunden drehte. Es war ein Wunder, dass Mick mich über ihr Rumgealbere hinweg überhaupt hörte. Mick hielt inne und sah sich um. Als ich mich ebenfalls wieder in die Richtung wandte, um ihm zu zeigen, wo ich es gesehen hatte, war der Schatten verschwunden. Mick zuckte mit den Schultern.
„Vermutlich nur ein Reh. Oder vielleicht will Moni uns einen Streich spielen, dafür, dass wir sie allein gelassen haben.“
Sue kicherte aus seinem Rücken und die beiden setzten ihren Weg fort. Keine Ahnung weshalb, aber mir war auf einmal der Spaß vergangen. Ich überlegte sogar kurz, umzudrehen und zu Moni an die Straße zu laufen, denn irgendwie überzeugte Mick mich nicht. Doch als ich nichts mehr erkennen konnte im Mondlicht, kam ich mir dennoch dämlich vor und folgte den beiden weiter in die Wiese hinein. Ich konnte es mir dennoch nicht verkneifen, mich alle paar Schritte umzusehen. Ein leichter Wind zog auf und das hohe Gras bewegte sich wie in Wellen. Die anderen Beiden hatten aufgehört herumzutollen und Mick ging nun langsamer. Die Straße war schon nicht mehr zu sehen. Kurz bevor wir das abgemähte Weizenfeld erreichen, drehte ich mich nochmal um und da war es wieder. Auf der anderen Seite der Wiese, am Rand zu dem kleinen Versorgungsweg baute sich ein massiver Schatten im Mondlicht auf. Es war immer noch weit weg, doch ich war mir sicher, dass es kein Reh war.
„Mick, da…“  Doch dann merkte ich, dass auch Mick in die Richtung starrte. Langsam setzte er Sue ab und kam die paar Schritte zu mir herüber.
„Wie ein Reh sieht das nicht aus, oder?“
Mick nickte langsam. Irgendetwas in mir hoffe, dass es einfach nur ein Auto war, das dort drüben Stand und in der Nacht einfach seltsam aussah. Nur wollte ich es mir selbst nicht so ganz glauben. Mick rempelte mich leicht an.
„Komm, gehen wir weiter. Wir haben noch ein Stück vor uns.“
Wir wandten uns ab und Sue begann wieder zu jammern, weil sie selber weitergehen musste. Ich hielt mich selbst davon ab, mich nochmals umzudrehen und steigerte das Tempo etwas. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Vielleicht hatte Moni doch recht gehabt, auf der Straße zu bleiben. Vielleicht spielte mir aber auch nur mein schlechtes Gewissen, dass wir hier durch die Felder trampelten, einen Streich. Das ehemalige Weizenfeld war schon mehr Acker als sonst etwas. Schon beim ersten Schritt meckerte Sue wieder, dass ihr die Füße weh taten, doch Mick ignorierte sie. Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass er wieder in die Ferne starrte. Ich wagte kaum den Kopf zu drehen. Doch als Mick sich gar nicht mehr weiter bewegte, sah auch ich zum Ende des Feldes hinüber und dort war er wieder. Der Schatten hatte sich mit uns mitbewegt. Er stand wieder auf gleicher Höhe am Rand des Ackers. Dieses Mal bemerkte auch Sue, dass dort etwas war.
„Was ist das?“ Sie drängelte sich zwischen Mick und mich. Ich zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, gibt es hier eigentlich Wildschweine?“
Der Umriss erinnerte mich am ehesten an einen Keiler, der massige Körper, der runde Rücken. Doch Mick schüttelte nur den Kopf.
„Ich glaube nicht. Zumindest hätte mein Onkel nie erwähnt, dass sie hier auch Wildschweine bejagen.“
Wir standen einfach nur da und starrten den Schatten an. Ich weiß nicht wie lange, doch wir wagten nicht mehr ihn aus den Augen zu lassen. Und dann bewegte er sich. Zuerst kaum merklich, als würde was immer dort auf der anderen Seite des Feldes war, ein paar ungelenke Schritte vorwärts machen. Dann wurde es immer schneller. Es dauerte etwas, bis wir es begriffen, doch was immer es war, es rannte nun direkt auf uns zu und es war schnell, verdammt schnell. Mick war der erste, der sich aus der Starre löste.
„Wir…wir sollten machen, dass wir hier wegkommen!“ Er gab mir einen leichten Stoß in die Rippen und das reichte auch, dass ich verstand, was da gerade passierte. Ich drehte mich in Richtung Maisfeld, packte Sue am Handgelenk und schrie: „Lauf!“
Mick hatte schon einige Meter Vorsprung. Ich ließ Sues Arm nicht los und zog sie mit mir über das Feld. Alleine wäre ich sicher schneller gewesen, doch irgendetwas sagte mir, dass sie es allein nicht geschafft hätte. Sue schluchzte hinter mir. Vermutlich nur zum Teil aus Angst, denn die Reste der Weizenstengel stachen sicherlich ihre nackten Füße blutig. Aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Es war nah und es war riesig. Es war immer noch wenig mehr als ein unförmiger schwarzer Fleck in der Dunkelheit. Ich wagte nicht den Kopf weiter zu drehen, um genauer hinzusehen. Zum einen wollte ich nicht riskieren auf dem unebenen Acker zu stolpern, zum anderen wollte ich es gar nicht wirklich sehen. Ich konnte es schon hören. Sein Atem war laut und kam stoßartig im Rhythmus seiner Galoppsprünge. Und der Wind trug seinen Geruch zu uns herüber. Zumindest glaubte ich, dass das was ich roch, das Ding war, das auf uns zu hielt. Es roch plötzlich nach grünem Holz, frisch gemähtem Gras und warmen Heu.
Mick erreichte die erste Reihe Maisstauden und verschwand mit einem lauten Krachen in der grünen Wand. Die ersten Stauden knickte er um, dann verschwand er stolpernd und fluchend im Feld. Als auch wir das nächste Feld erreichten, ließ ich Sues Handgelenk los. Der Mais stand dicht an dicht, wir hatten nur einzeln eine Chance uns unseren Weg hineinzubahnen. Ich konnte Mick vor uns durch das Feld krachen hören. Hinter mir schluchzte Sue vor sich hin, hielt jedoch mit mir Schritt. Wir rannten und rannten, bis mein Hirn wieder einschaltete. Ich hörte Mick vor mir und ich hörte Sue hinter mir und das war es. Was immer da über das Feld auf uns zu gerannt war, war uns nicht in den Mais gefolgt. Eine Kreatur von der Größe hätten wir gehört. Außerdem hätte sie uns bei der Geschwindigkeit mit der sie über den Acker gekommen war, längst eingeholt.
„Mick! Mick bleib stehen! Es verfolgt uns nicht mehr!“ Meine Stimme war rau und heißer. Ich merkte wie mir die zwei Bier zu Kopf stiegen nach der plötzlichen Anstrengung und wie die Maisstauden um mich herum zu taumeln begannen. Sue prallte gegen meinen Rücken. Es kostete mich alle Selbstbeherrschung nicht einfach umzukippen und mich zu übergeben. Sie krallte sich an meinem Arm fest und kreischte mir direkt ins Ohr.
„Was war was? Was zur Hölle war das? Oh Gott, was war das?“
Ich wusste es nicht. Die Welt um mich herum drehte sich und ihre Hysterie half mir auch nicht gerade. Etwas bewegte sich direkt vor uns. Die Blätter an den Stauden raschelten und Sue begann noch lauter zu Schreien.
„Halt doch deine dumme Schnauze!“ kam es aus dem Dunkeln. Mick tauchte zwischen den Stauden vor uns auf. „Kreisch doch noch ein wenig lauter, vielleicht entscheidet sich das Ding dann doch anders und kommt uns doch noch hinterher!“
Sue verstummte hinter mir. Nur noch das unterdrückte Schluchzen war zu hören. Es gab mir eine gewisse Genugtuung zu sehen, dass Mick genau so schwer atmete wie ich. Wir standen einfach nur da und lauschten in die Nacht. Doch außer meinem eigenen Herzschlag, der mir in den Ohren dröhnte nach dem Spurt und unserem Atem gab es kein Geräusch. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis jemand wieder wagte, etwas zu sagen. Es war Sue, doch diesmal hatte sie sich unter Kontrolle und ihre Stimme war ein stockendes, halbersticktes Flüstern.
„W-w-wieso ist, ist es draußen geblieben? Meint… meint ihr, es wartet auf uns?“
Ich wollte schon mit den Schultern zucken, weil ich keine Antwort wusste, doch dann kam mir ein Gedanke, bei dem sich mein Magen zusammenkrampfte.
„Moni ist draußen auf der Straße“, stammelte ich. Die anderen beiden sahen mich an und begriffen sofort. Mick wurde so blass, dass sich sein Gesicht wie eine Maske vor dem dunklen Hintergrund abhob und Sue schlug beide Hände vor den Mund, um einen erneuten Schrei zu ersticken. Die Maisstauden waren kein unüberwindbares Hindernis für was immer es gewesen sein mochte. Doch das Mädchen, das einsam und allein draußen auf der offenen Straße entlang ging, war das deutlich einfachere Ziel.
„Das ist doch Scheiße!“ Mick wurde plötzlich hektisch und begann seine Hosentaschen abzutasten. „Ich ruf jetzt die Cops oder sonst irgendwen an. Mein Onkel soll kommen und das Vieh abballern. Mir egal wessen Jagdrevier das hier ist.“
Mit einem Mal erschien Rettung in Sicht. Mick hatte recht. Ich zog ebenfalls mein Handy aus der Tasche. Scheiß auf den Anpfiff unserer Eltern und vom alten Mesner, wir würden uns Verstärkung holen. Während ich noch mit zitternden Fingern mein Display entsperrte, zeichnete sich die Beleuchtung von Micks Handy schon auf seinem Gesicht ab und er durchsuchte seine Kontaktliste. Die Displaybeleuchtung fesselte unsere Blicke, wie eine Lampe die Motten anzog. Keiner bemerkte, dass sich die Maisstauden hinter Mick zur Seite bogen und mit einem Mal war es da. Mit einem Geräusch, das halb Knurren und halb Fauchen war, sprang es Mick in den Rücken und schleuderte ihn zu Boden. Sue begann wieder zu kreischen und rannte blindlings los. Dabei verpasste sie mir einen derartigen Stoß, dass ich auf die Knie fiel. Die Blätter der Maisstauden zerschnitten mir die Wangen und mein Handy verschwand irgendwo im Dunkeln auf dem Boden.
Mick schrie. Ein Geräusch, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte. Er lag auf dem Bauch, schlug mit den Fäusten auf die Erde und die Kreatur stand über ihm und hielt mit seinen riesigen, krallenstarrenden Pranken seine Oberschenkel fest. Die Klauen bohrten sich durch Micks Hose und sein Fleisch. Das Blut quoll schwarz durch den Stoff. Die Kreatur war riesig. Ich hatte noch nie auch nur etwas annähernd Vergleichbares gesehen. Dicke stämmige Beine mit kurzen schwarzen Borsten bedeckt und einen Buckel, der mich an eine Hyäne denken ließ. Ein breiter Hals, mit einer tiefhängenden Wamme. Doch das Schlimmste war der Kopf. Es hatte keine Augen, keine Ohren und in der Dunkelheit sah es auch so aus, als hätte es kein Fleisch am Kopf. Nur ein Schädel über dem sich vertrocknete Haut spannte. Zu meiner Verwirrung hatte das ding auch keine Zähne im Maul. Nur die zertrümmerten Kiefer schienen direkt aus der toten Haut herauszuragen. Es gab nochmals diesen eigenartigen knurrenden Laut von sich, hob die geöffnete Schnauze Richtung Himmel und dann biss es zu. Sein Oberkiefer umschloss Micks linke Seite und der Unterkiefer bohrte sich hinter der Wirbelsäule in seinen Rücken. Mit Leichtigkeit zerteilte es Micks Körper, während dieser weiter schrie und schrie und schrie. Ich konnte hören, wie sein Fleisch riss, wie seine Rippen und das Rückgrat brachen unter dem Druck der gewaltigen Kiefer. Mick hob ein letztes Mal den Kopf und starrte mich direkt an. Ich saß noch immer weniger Meter von dem Monster, das gerade meinen besten Freund zerfleischte au dem Boden und hielt die Luft an. Erst als ich Micks weit aufgerissene Augen sah und den Mund, der nur noch zu einem stummen Schrei aufklaffte, wurde mir klar, was da gerade passierte. Ich musste weg. Ich musste weg, so lange es noch mit Mick beschäftigt war. Ich kroch die ersten Paar Meter rückwärts auf allen Vieren durch den Mais, dann rappelte ich mich auf und rannte los. Ich musste raus aus diesem verfluchten Feld, hoch zur Bundesstraße. Neben dem Feld lag ein kleiner Versorgungsweg, dann noch eine kleine Wiese, keine zwanzig Meter breit. Über den Graben, die Böschung hoch und über die Leitplanke hoch auf die Bundesstraße. Auf der anderen Seite begann sofort die Siedlung. Irgendjemand musste mir die Tür auf machen, irgendjemand musste mich reinlassen und mir helfen und hinter mir konnte ich in immer größer werdender Ferne noch immer hören, die Micks Knochen brachen, wie Stoff zerrissen wurde.
Mit einem Mal fielen mir Sue und Moni wieder ein. Sue rannte kopflos in eine vollkommen falsche Richtung durch das Feld und Moni stand draußen noch immer als leichte Beute auf der Straße. Ich wurde etwas langsamer, während ich mich Reihe um Reihe durch die Maisstauden schob. Konnte ich wirklich so ein Schwein sein und sie einfach ihrem Schicksal überlassen? Ich hatte doch ohnehin keine Chance gegen dieses Vieh. Selbst wenn ich bei ihnen war, könnte ich ihnen nicht helfen, sondern nur zu sehen, wie dieser grauenvolle skelettartige Schädel ohne Zähne auch sie zerriss und beten, dass ich nicht der nächste war. Ich würde Hilfe holen. Sobald ich in Sicherheit war, würde ich die Polizei rufen.
Ich stockte. Irgendetwas war plötzlich anders. Und dann begriff ich. Es war wieder still. Eine unglaubliche Panik hob in mir an. Wenn es mit Mick fertig war, bedeutete das, es war wieder hinter uns her. Ich rannte nicht mehr kopflos durch die Nacht, auch wenn ich es am Liebsten getan hätte. Ich bewegte mich schnell, aber versuchte so wenige Geräusche dabei zu verursachen, wie möglich. Rechts von mir brachen mehrere Maisstauden. Ich wollte schon losrennen, bevor ich bemerkte, dass das Geräusch nicht in meiner unmittelbaren Nähe war. Dann folgte das Schreien.
Sue schrie irgendwo in den Tiefen des Feldes und es war nicht ihr übliches hysterisches Gekreische, wenn sie sich erschreckte. Sie schrie aus tiefster Todesangst und vor Schmerzen.
Ich begann wieder zu rennen. Aus unzähligen kleinen Schnittwunden rann das Blut meine Arme hinab, als wäre der Mais mit kleinen Rasierklingen bestückt. Ein seltsames feuchtes Knirschen war im ganzen Feld zu hören und aus dem Schrei wurde ein ersticktes Röcheln und dann war es wieder still.
Ich versuchte durch das Feld zu schleichen, als Sue verstummt war. Mein Atem kam nur noch kurz und stoßweise über meine Lippen. Ich hechelte wie ein Hund und versuchte verzweifelt zu hören, wo die Kreatur sich gerade befand. Doch nichts. Die Nacht war mit einem Mal totenstill geworden.
Dann drang ein Rauschen an mein Ohr. Es kam direkt von vorne. Zuerst wollte ich umdrehen, zurück tiefer in den Mais rennen, doch dann begriff ich. Es war ein LKW, der oben auf der Bundesstraße vorbeifuhr. Ich war so dicht dran, das Feld musste bald zu Ende sein. Ich tastete mich langsam vor, Schritt für Schritt. Mein Kopf zuckte hektisch von einer Seite zur anderen, immer auf der Suche nach etwas, das die Anwesenheit der Kreatur ankündigte. Doch da war nichts.
Nur wenige Reihen vor mit konnte ich den Kiesweg durch die Maisstauden schimmern sehen. Im Mondlicht wirkte er beinahe weiß. Ich zögerte.
Dort draußen würde sie mit Sicherheit auf mich lauern. Sobald ich auch nur einen Finger aus dem Mais hinausstreckte, würde sie da sein und mich packen. Ich kauerte mich hinab auf alle Viere und kroch näher an das Ende des Feldes heran. Ich konnte alles sehen. Den Weg, die Wiese, den Graben… was, wenn es im Graben hockte und auf mich wartete, was wenn… Aus dem Augenwinkel erspähe ich etwas, das links von mir auf dem Weg kauerte. Ich wollte schon umdrehen und wegrennen, als mir bewusst wurde, dass es nicht die Kreatur war. Es war zu klein, zu flach. Als ich erkannte, was es war, wurde mir wieder schlecht. Es war Sue.
Oder besser gesagt, was von ihr übrig war. Sie lag auf dem Rücken. Ein Teil ihres linken Beins fehlte und auch der Unterkiefer war aus ihrem Schädel gerissen worden. Ihre Augen starrten regungslos in den Nachthimmel. Ich presste beide Hände fest auf meinen Mund. Sie lag einfach da und… und… in meinem Hirn begann es zu rattern. Sie lag links von mir auf dem Weg. Links. Sie war vorher nach rechts gerannt, ich hatte sie rechts im Feld schreien hören. Es war unmöglich, dass sie sich so weit über den Feldweg geschleppt hatte, noch dazu ohne Spuren zu hinterlassen. Es war kein Blut auf dem Weg.
Es war hier. Es hatte auf mich gewartet und jeden Moment würde es…
Ich wartete nicht mehr. Ich drückte mich vom Boden ab wie ein Sprinter beim 100m Lauf und rannte los mit allem was mein zerschundener Körper noch geben konnte. Ich brach durch die letzten beiden Reihen Maisstauden, schoss hinaus auf den Weg und hinüber auf die Wiese. Noch bevor ich beide Füße im Gras hatte, hörte ich es. Der Mais krachte und etwas Schweres, Schnelles sprang auf den Kiesweg. Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nicht sehen, wie nah es schon war, wie schnell es aufholte. Ich begann zu schreien und zu weinen und rannte, rannte mit allem was ich hatte. Ich würde es nicht schaffen.
Vor mir klaffte der Graben auf und etwas berührte meinen Arm. Wie scharfe Messer schnitt es durch meinen Unterarm, durch meine Hand. Ich kam ins Taumeln. Mit letzter Kraft warf ich mich in einem Hechtsprung Richtung Graben. Ich schlug der Länge nach auf der Böschung auf. Etwas durchbohrte meine rechte Wange. Ich schmeckte Blut und Dreck.
Es hatte mich. Es hatte mich erwischt. Ich blieb liegen, drückte mein Gesicht in den Dreck, kniff die Augen zu und wartete darauf, dass die Kiefer meine Rippen zertrümmerten, wie sie es bei Mick gemacht hatten.
Doch nichts passierte. Zitternd und während mir der Rotz aus der Nase lief, wagte ich es langsam den Kopf zu heben. Ich lag immer noch auf der anderen Seite des Grabens. Wenige Meter über mir glänzte die Leitplanke im Mondlicht. Ich rollte mich auf den Rücken und da war es wieder. Nur etwas zwei Meter vor mir, auf der anderen Seite des Grabens stand es. Aufgebracht trat es von einem Vorderbein aufs andere, sperrte immer wieder drohend sein bluttriefendes Maul auf und fauchte. Doch es setzte keine Pranke in den Graben.
Ich begann langsam mich rücklings die Böschung hochzuschieben. Ich wagte nicht, den Blick von ihm abzuwenden, aus Angst es könnte es sich doch noch anders überlegen und mir folgen. Nach einigen Sekunden schüttelte das Biest seinen gewaltigen Schädel und die Wamme an seinem Hals schlackerte hin und her und es wandte sich von mir ab und trottete über die Wiese davon. Das war der Augenblick in dem ich mich umdrehte und so schnell ich konnte die Böschung hochkroch. Erst als ich bereits ein Bein über die Leitplanke hatte, warf ich noch einen Blick zurück.
Die Kreatur stand unten auf dem Feldweg neben dem, was noch von Sue übrig war und hatte den Kopf in meine Richtung gedreht. Als hätte es darauf gewartet, dass ich mich nochmal zu ihm umsah. Mit einem dumpfen Knurren schnappte es noch einmal zu, packte Sues Kopf und zerrte ihren Körper mit sich ins Maisfeld.
Das Geräusch, als Sues Schädel von seinen Kiefern zermalmt wurde, gab mir den Rest. Die Welt um mich herum wurde grau und ich verlor das Bewusstsein.

Als ich die Augen wieder öffnete war es hell, zu hell. Ich lag in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer. In meinem Kopf drehte sich alles. Mein ganzer Körper tat weh und ich begriff zuerst nicht, was vor sich ging. Das erste was ich erkannte, war meine Mutter, die neben dem Bett auf einem Stuhl saß. Als sie bemerkte, dass meine Augen offen waren, sprang sie auf, drückte sich dicht neben das Bett und legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Du bist wach, Gott sei dank du bist wieder wach. Alles ist gut, Schatz, du bist im Krankenhaus.“
Meine Gedanken begannen zu schwimmen. Die Welt um mich herum begann zu flackern und immer wieder grau zu werden. Es war schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Sue und Mick waren weg und ich lag hier und… und…
„Moni?“ war alles, was ich mit krächzender Stimme hervorbrachte. Meine Mutter schien kurz verwirrt. Doch dann drückte sie meine Schulter etwas fester.
„Sie ist an dem Abend ganz normal nach Hause gekommen, ihr geht es gut. Aber was ist mit euch passiert, wo sind…“
Den Rest des Satzes verstand ich bereits nicht mehr. Es hatte mich schon alle Kraft gekostet, den Anfang noch mitzubekommen. Ich dämmerte wieder weg.

So ging es die folgenden Tage. Wann immer ich zu wach wurde, bekam ich Panikattacken und begann zu schreien, deshalb bekam ich etwas zur Beruhigung. Ich wachte auf und jemand stand an meinem Bett. Mal meine Mutter, mal mein Vater oder mein älterer Bruder. Wir wechselten ein paar Worte und ich sackte wieder zurück in meinen Halbschlaf. Am dritten oder vierten Tag, ich weiß es nicht genau, ich hatte kein Zeitgefühl mehr, stand dort jedoch jemand, den ich nie im Leben erwartet hätte. Der alte Mesner stand am Fußende meines Bettes und starrte auf mich hinab. Mit einem Mal war ich hell wach, so wach wie seit dieser Nacht nicht mehr und ich hatte Angst. Er wusste es, da war ich mir sicher. Er würde mich anschreien, er würde mich vielleicht sogar schlagen. Wieso hatte man ihn überhaupt zu mir gelassen? Doch er tat nichts, er stand einfach nur da und sah mich an. Als er schließlich sprach, war seine Stimme leise und ruhig.
„Du und deine Freunde, die beiden, die keiner gefunden hat, ihr seid in der Nacht über meine Felder gelaufen, oder?“
Ich zitterte am ganzen Körper, doch ich brachte ein halbes Nicken zustande. Noch immer schrie er mich nicht an. Stattdessen kniff er die Augenlider fest zu und seine dicken wulstigen Lippen begannen zu zittern.
„Gott, habe ich euch nicht genug Angst gemacht? Was muss ich noch tun, damit sich alle von den Feldern fernhalten?“ Es klang beinahe wie ein Schluchzen. Mein umnebeltes Gehirn verstand nur die Hälfte von dem was er sagte, doch eines wurde mir klar.
„Sie…Sie wissen von dem Ding? Haben Sie es dort, damit niemand Ihre Felder zertrampelt?“
Sein Blick schnellte wieder zurück zu mir und ich zuckte zusammen. Aber er war noch immer nicht wütend. Die glasigen Augen in dem zerfurchten Gesicht wirkten traurig und erschrocken.
„Nein, nein, nein, Junge. Nein. Es war schon immer da, seit ich denken kann und auch davor. Schon mein Großvater hat erzählt, dass man ihn als Kind davor gewarnt hat und auch ich muss mich vor ihm in Acht nehmen, wie meine ganze Familie.“
Er schluckte schwer bevor er fortfuhr.
„Wenn ich zu früh mähe, kommt es nachts und zerstört die Maschinen und greift das Haus an. Wenn ich falsch pflanze, verwüstet es die Saat. Als ich neun war, beschloss mein Onkel, dass er sich nicht mehr von einem Dämon, so nannte er es, vorschreiben lässt, wie er seine Felder bewirtschaftet. Er nahm sein Jagdgewehr und fuhr mit dem Traktor und dem Mähwerk hinaus aufs Feld, als die Dämmerung begann. Das Einzige was man am nächsten Morgen fand, war das kaputte Gewehr am Feldrain. Weder von meinem Onkel noch von der Maschine sah man je wieder etwas.“
Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, knetet mit seinen schwitzigen Händen die Front seines dreckigen Hemdes und drehte sich immer wieder zur Tür um, als hätte er Angst, jemand könnte plötzlich reinkommen. Seine letzten Worte flüsterte er beinahe: „Die Polizei wird bald zu dir kommen. Sie suchen noch immer nach deinen Freunden. Ich flehe dich an. Deine Freunde kannst du nicht mehr retten, die sind für immer weg. Aber wenn du die anderen retten willst, all die anderen, die nach ihnen suchen werden… egal was du ihnen erzählst. Bitte, ich bitte dich, sorge dafür, dass sie sich von den Feldern fernhalten."

Bavaria infernalis - Das Kleid ihrer Träume



Ich war noch nie das typische Mädchen. Schon als Kind konnte ich es nicht leiden, wenn meine Mutter mir die Haare flechten oder mir Kleider kaufen wollte. Ich war das typische Jeans-n-Shirt Girl, sehr zum Leidwesen meiner Großmutter, die immer ein „gutes Mädchen“ haben wollte. So wie meine Cousine. Sie war immer das gute Mädchen, mit den blonden Zöpfen und den gestärkten weißen Kleidchen.  Dass sie schon als kleines Kind log und betrog, um zu bekommen was sie wollte, war egal. Sie war das Vorzeigekind in der Familie. Ich war das Schmuddelkind mit den dreckigen Fingernägeln und den aufgeschlagenen Knien, das man lieber nicht vorzeigte.
Umso überraschter waren alle, als ich während dem Studium den Job in dem renommierten Brautausstattungsladen antrat. Ich interessierte mich wenig für Mode und noch weniger für Brautmode. Ich hatte andere Ziele im Leben, als einen guten Mann zu finden und möglichst schnell zu heiraten. Mit Anfang 20 hatte ich ganz andere Dinge vor. Meine Großmutter sah mich schon als alte Jungfer sterben, als ich gerade mal 18 war. Selbstverständlich habe ich ihr nie gesagt, dass das Thema mit der Jungfräulichkeit zu diesem Zeitpunkt schon gegessen war. Hätte sie es gewusst, hätte ich mir vermutlich noch so etwas anhören dürfen wie, kein Mann will eine gebrauchte Frau heiraten. Für sie war es also beschlossene Sache, ich würde mein Leben lang allein bleiben und alleine sterben. Ich glaube, für meine Großmutter war es auch blanker Hohn, dass ich im Allerheiligsten arbeiten durfte. Denn es war nicht irgendein Hochzeitsausstatter, es war das „Auf immer und ewig“.
Schon meine Großmutter hatte dort ihr Hochzeitskleid gekauft und auch meine Mutter war dazu gezwungen worden, sich dort ihr Kleid kaufen zu lassen – nicht, dass Großmutter ihr da ein Mitspracherecht eingeräumt hatte. Keiner konnte genau sagen, wie lange das „Auf immer und ewig“ schon bestand. Ich habe irgendwann mal die Betreiberin gefragt. Sie lachte nur und meinte, der Name würde es doch bereits sagen.
Es war nicht nur ein Geschäft, es war eine Institution in Sachen Brautkleid. Eine kleine Berühmtheit, die lange vor Facebook und Dokusoaps bis über die Grenzen Oberbayerns hinaus bekannt war und Kundschaft von nah und fern anlockte. An den Job kam ich zufällig mit der Hilfe einer guten Freundin. Ihre Tante arbeitet im „Auf immer und ewig“ als eine der Änderungsschneiderinnen. Sie war es, die mir bei einem Kaffee eines Tages erzählte, dass eine Assistentin für den Laden gesucht wurde.
Keine Ahnung, wieso ich mich überhaupt beworben habe. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die falsche für den Job war. Kein Interesse an Mode, kein Interesse an Hochzeiten… Doch zu meiner Verwunderung stellte sich heraus, dass die Inhaberin genau so jemanden wie mich suchte. Sie wollte niemanden, der sich kreativ einbringen und bei Beratungsgesprächen und Dekofragen mitreden wollte. Sie suchte jemanden, der auf ihre Anweisungen den Kundinnen die Kleider zur Kabine trug, sie wieder zurückhängte und die Schaufensterpuppen zusammenschraubte.
Die Betreiberin des „Für immer und ewig“ war eine bemerkenswerte Frau. Ich muss gestehen, ich kann mich nicht mehr wirklich an ihren Namen erinnern, denn jeder nannte sie nur Madame. Madame schien – wie ihr Laden auch – aus einer anderen Zeit oder gar einer anderen Welt zu sein. Die war eine Dame vom alten Schlag. Keine zickige Diva, sondern eine echte Dame, so wie man sie sich aus alten britischen Filmen vorstellte. Sie war groß und schlank ohne dabei mager oder schwächlich zu wirken. Ihre grauen Haare trug sie stets zu einem sauberen Dutt zusammengefasst. Nie lag eine Strähne, ach was sage ich, nie lag auch nur ein einzelnes Haar nicht an seinem Platz. Ihre grünen Augen blitzen aus ihrem feinknochigen Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den immer perfekten Augenbrauen. Die blassrosa Lippen lächelten selten und nie sah man sie etwas anderes tragen als ein pastellfarbenes Kostüm mit knielangem Rock und einer weißen Bluse mit Stehkragen. Egal ob draußen die Sonne mit 38° auf den Asphalt schien oder ein Schneesturm tobte, Madame war immer die Eleganz und Perfektion in Person.
Madame war eine Monarchin in ihrem eigenen Königreich, denn nichts anderes war das „Auf immer und ewig“. Wenn man durch die große goldfarbene Eingangstür mit den zwei Flügeln schritt, betrat man eine andere Welt. Sobald die Tür hinter einem zufiel, hörte die Stadt dort draußen auf, zu existieren. Man konnte sie nicht mehr sehen, man konnte sie nicht mehr hören. Im Eingangsbereich erwartete die Besucher der weiße Raum. Eine große runde Couch aus schneeweißem Leder, weiße Rosen in Glasvasen, weiße Marmorböden, ein Beistelltisch in weißem Lack auf dem immer eine Wasserkaraffe und weiße Gläser standen und dort, bevor die potentiellen Bräute und ihre Begleiterinnen zur den Verkaufskleidern geführt wurden, dort stand auch das eine Kleid.
Hinter einer roten gedrehten Samtschnur, gehalten von sechs silberfarbenen Ständern thronte das Kleid auf einem kleinen Podest aus weißem Marmor, getragen von einer silbernen Puppe. Es war schulterfrei und im Prinzessinnenstil geschneidert – so hatten es mir die anderen Mitarbeiterinnen zumindest erklärt, ich hatte davon keine Ahnung. Die Corsage war mit unzähligen Reihen kleiner glitzernder Steine besetzt und der Rock bestand aus unzähligen Lagen Tüll – mir hatte auch mal jemand erklärt, wie viele genau – und vom Saum her kletterte eine feine Spitze in exquisitem Muster bis auf Höhe der Knie empor. Das einzige was ich über dieses Kleid definitiv wusste, war, dass es unverkäuflich war. Alles andere waren Gerüchte und Mythen, die sich die Angestellten über dieses Stück erzählten. Manche behaupteten, es sei das letzte Stück, das ein berühmter Designer entworfen hatte, bevor er tot über dem Kleid zusammensackte. Andere glaubten, es sei das Kleid einer Berühmtheit, die am Hochzeitstag verlassen vor Gram in dem Kleid verstarb. Andere behaupteten ganz pragmatisch, es sei das Hochzeitskleid, dass Madame selbst einst getragen hatte.
Auch wenn eine Theorie unsinniger war, als die nächste, das Kleid umgab eine Aura des Mythischen, der nicht einmal ich mich entziehen konnte. Von den Bräuten und ihren Begleitungen einmal ganz zu schweigen. Sie alle starrten es mit offenen Mündern an, schmachteten und gaben bisweilen eigenartige Geräusche von sich, wenn sie es bewunderten. Es war strengstens untersagt, das Kleid zu berühren oder zu fotografieren. Wer dennoch versuchte, heimlich das Handy zu zücken, wurde von Madame ohne weitere Umschweife vor die Tür gesetzt. Egal wie groß der Protest war, egal wie viel Geld die potentiellen Kundinnen im Laden ausgeben wollten oder wie lange sie auf den Termin gewartet hatten. Die Regeln von Madame waren Gesetz sobald man durch die große Flügeltür schritt und wer sich nicht an ihre Gebote hielt, wurde ohne Gnade und Chance auf Vergebung aus dem Paradies verbannt.
Der Legende nach erlaubte Madame in ganz seltenen Fällen einer Braut, das Kleid anzuprobieren, erzählte die Dienstälteste Schneiderin. Allerdings hatte außer ihr das wohl noch nie jemand erlebt und so hielten es die anderen Mädchen im „Auf immer und ewig“ für ein Gerücht, dass sie erzählte, um sich wichtig zu machen.
Die Jahre vergingen, die Mädchen kamen und gingen, doch ich blieb. Ich arbeitete meine ganze Studienzeit hindurch bei Madame. Sie schätzte meine sachliche Art, dass ich nicht bei jeder neuen Kollektion bei der Dekoration im Laden beinahe in Ohnmacht fiel vor „ohs“ und „ahs“ und besonders schätzte sie, dass ich mich nicht einmischte. Wenn sie sagte, die Puppe brauche einen anderen Kopf, holte ich einen und schraubte ihn auf, ohne zu diskutieren. Wenn sie lieber das Empire Kleid im Schaufenster in der Mitte haben wollte, anstatt der A-Linie, stellte ich es um. Ich kam pünktlich zur Arbeit, zog ohne jegliche Diskussion die schwarze Stoffhose, das pastellblaue Poloshirt und die weißen Turnschuhe an, die dort in der Umkleide in einem Spind mit meinem Namen drauf frisch gereinigt zu jedem Schichtbeginn auf mich warteten und erledigte meine Aufgaben, ohne mich in Madames Belange einzumischen.

Die Zeit im „Auf immer und ewig“ hätte in meiner Erinnerung eine der schönsten in meinem Leben bleiben können, hätte ich an dem verregneten Aprilnachmittag in meinem letzten Semester frei gehabt. Doch dieser Nachmittag entwickelte sich zuerst zu meinem ganz persönlichen, beruflichen Alptraum und sollte noch weitaus größere Ausmaße annehmen, als ich mir damals ausmalen konnte.
Ich war pünktlich zu Schichtbeginn in der Umkleide fertig. In fünf Minuten stand ein Termin im Kalender, die Leute warteten sicher schon im Vorraum. Madame hatte die Angewohnheit keine Namen zu den Terminen zu notieren, deshalb hatte ich nicht die geringste Ahnung, was mich erwartete, als ich den Vorraum betrat. Marie, die direkt hinter dem Eingang an ihrem weißen Lacktresen saß, die Anrufe entgegennahm und über die Einhaltung der Benimmregeln im Wartebereich wachte, nickte mir nur wortlos und rollte mit den Augen. Ein Zeichen, das bedeutet, dass die Kundschaft anstrengend war. Hatte Madame schlechte Laune, hob Marie die Augenbrauen. Doch ich konnte schon hören, was ihr auf die Nerven ging. Die Herrschaften im Wartebereich waren laut, redeten mit schrillen Stimmen, lachten und grunzten dabei, klatschten sich auf die Oberschenkel und schoben die Wassergläser über den Tisch. Mit einem Mal fühlte es sich an, als würde sich ein Felsbrocken in meinem Magen bilden. Ich kannte eine der Stimmen nur allzu gut. In dem Moment tauchte auch schon ein blonder Lockenkopf über der Sofalehne auf und drehte sich in meine Richtung.
„Cousinchen, endlich wir warten schon eine Ewigkeit!“ Es war mehr ein hysterisches Gekreische, als eine normale Begrüßung und sie sprang so schnell auf, dass sie die Hälfte der Wassergläser auf dem Tisch umfegte. Ich hörte Marie hinter mir seufzen und ihre Schritte näherten sich von hinten.
„Lass gut sein, Miriam. Ich räum das schon weg. Schaff sie nur schnell zum Termin, damit sie schnell wieder weg sind.“
Nun war es an mir zu seufzen. Ich setzte mein professionellstes Lächeln auf, ging zu der Sitzgruppe hinüber und begrüßte alle Vier förmlich. Meine Cousine war mit meiner Tante und zwei Freundinnen erschienen. Ich hatte die beiden noch nie in meinem Leben vorher gesehen und es war mir auch egal. Meine Tante behandelte mich ohnehin wie eine Fremde. Ich reichte ihnen die Box mit den Schutzüberzügen für die Straßenschuhe, die meine Cousine und ihre Freundinnen lachend über ihre Schuhe stülpten, während sie Kondomwitze machten und bedeutete ihnen dann mir zu folgen.
Auf Höhe des Kleides hinter der Samtschnur, packte mich meine Cousine plötzlich vom Arm und riss mich zurück.
„Sowas will ich! Genau das und nichts anderes! Ich will aussehen wie eine Prinzessin an meinem großen Tag. Auf keinen Fall will ich etwas von der Stange, hörst du!“
Die Freundinnen nickten eifrig und bejahten jedes ihrer Worte. Ich murmelte nur etwas von unverkäuflich und mit Madame sprechen und führte die kichernde und quiekende Gruppe durch den kleinen Rundbogen einen kurzen Gang entlang, bis wir die Brautkleiderausstellung erreichten. Dort erwartete uns auch bereits Madame. Mit strengem Blick musterte sie die Vier, sagte jedoch nichts außer die üblichen Grußworte. Ich hoffte, dass das Thema der Verwandtschaft nicht aufkommen würde. Doch da sie nicht aufhören konnte mit ständig „Cousinchen“ zu nennen, war die Katze schnell aus dem Sack. Ich konnte mich nicht daran erinnern mich je in meinem Leben so sehr geschämt zu haben, wie in diesem Moment. Ich schämte mich vor Madame für das Benehmen meiner Cousine in Grund und Boden.
Doch Madame ließ sich nichts anmerken, sie fragte in ihrer gewohnt professionellen Art nach dem Datum für die Hochzeit, die Wünsche an das Kleid und all die anderen kleinen Dinge, die sie abklärte, bevor sie ihre Kundinnen durch die Reihen der Kleider führte. Meine Cousine begann zu erzählen und zu beschreiben und ihre Freundinnen kommentierten jedes zweite Wort mit Gekicher, melodramatisch gehauchten „Jas“ und „Ohs“. Meine Tante hielt sich stumm im Hintergrund. Madame nickte nur von Zeit zu Zeit stumm und als der Redeschwall endlich abebbte, bedeutet sie der Gruppe ihr zu folgen. Madame führte sie durch die Reihen und ich folgte in etwas Abstand. Meine Aufgabe war es, die Kleider, die Madame und die zukünftige Braut aussuchten, zur Ankleide zu bringen. Bis sie etwas fanden folgte ich einfach schweigend und sah mir das Spektakel an. In der Regel war schnell das erste Kleid gefunden, doch diesmal wanderten wir Runde um Runde durch die Brautkleider und jeder Vorschlag wurde abgeschmettert. Zu lang, zu wenig Schleppe, zu viel Glitzer, zu wenig Ausschnitt, zu hässliche Spitze…
„Ich will nicht aussehen wie all die billigen Schlampen! Die Familie meines Mannes hat Geld und das soll man auch sehen!“ quiekte meine Cousine empört, als Madame ihr ein schlichtes Vintagekleid mit dezenten Spitzenärmeln zeigte. Das war der Moment in dem sich an Madames Ausdruck etwas veränderte. Zu dem Zeitpunkt konnte ich es noch nicht richtig deuten, doch heute ist mir klar, das war der Augenblick in dem sie die Witterung aufgenommen hatte.
„Erzählen Sie mir doch mehr von ihrem Verlobten, Katharina. Damit ich eine bessere Vorstellung bekomme.“ Madames Stimme war leise und sanft. Und meine Cousine begann zu erzählen. Sie erzählte von der teuren Party auf der sie ihn kennengelernt hatte, von dem teuren Urlaub, auf den er sie eingeladen hatte, von dem großen Haus, dass er hatte, von dem tollen Sportwagen, den er fuhr und von der gigantischen Hochzeitsfeier, die sie geplant hatten und zwischendurch lehnte sie immer wieder ein gezeigtes Kleid ab.
Schließlich blieb Madame stehen und verschränkte die Arme locker vor sich. Um ihre Lippen spielte ein kleines Lächeln.
„Ich denke, Katharina, für Sie brauchen wir etwas ganz besonders. Miriam, sei doch bitte so gut und hole uns das Kleid von der Puppe im Wartebereich.“
Meine Cousine und ihre Freundinnen begannen los zu kreischen und auf und ab zu hüpfen. Ich dachte einen Moment lang mich verhört zu haben, doch Madame nickte mir nur zu.
„Zieh bitte das weiße Hemd an, dass unter dem Empfangsthresen liegt und die Handschuhe. Das Kleid soll nicht unnötig mit Hautfett in Kontakt kommen.“
Wie in Trance wandte ich mich ab, während hinter mir die Gruppe weiter grölte, wie eine Horde Teenies auf einem Boybandkonzert. Wieso bekam ausgerechnet sie, die Chance dieses Kleid anzuprobieren? Wieso erlaubte Madame auch nur, dass sie in seine Nähe kam? Ich spürte wie die Wut in mir hochkroch und meine Schritte wurden eiliger und hallten in dem kleinen Durchgang wider. Ich blieb im Wartebereich kurz neben dem Kleid stehen. Sie würde ohnehin nie hineinpassen. Das Kleid war was? Größe 36? Und von der Länge her war es für eine große Frau geschneidert, nicht für meine kleine plumpe Cousine. Ich stapfte zum Empfangsthresen und bevor Marie fragen konnte, was los war, hatte ich bereits die Schubladen durchwühlt und das Hemd und die weißen Baumwollhandschuhe gefunden. Die Ärmel waren eng und lang und reichten bis vor zu den Handrücken.
Marie fragte nicht nach, sie starrte nur mit offenem Mund, als ich die Samtkordel aushängte und zu der Puppe auf das Podest trat. Ich streckte die Hand nach dem Kleid aus und mit einem Mal war all meine Wut verraucht. Die Ehrfurcht vor dem Kleid überwog wieder. Ich näherte mich vorsichtig, so als hatte ein Teil von mir Angst, es könnte unter meinem Griff zerreißen. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich das Kleid in all den Jahren gesehen, aber nie genauer angeschaut hatte. Ich war immer der festen Überzeugung, die Corsage des Kleides würde von unzähligen Häkchen oder wenigstens eine Schnürung zusammengehalten. Doch dort hinten am Rücken befand sich einfach nur ganz unzeremoniell ein Reißverschluss. Bevor ich ihn aufzog, nahm ich die Arme der Puppe ab, damit ich das Kleid leichter über ihren Kopf ziehen konnte. Die Steinchen auf der Corsage begannen wie wild zu funkeln und so verrückt der Gedanke klang, sie wirkten wütend.
Ich öffnete den Reißverschluss, der bis tief in den Rock hinabreichte und zog das Kleid vorsichtig nach oben von der Puppe. Immer darauf bedacht, dass es nicht den Boden berührte, stieg ich von dem Podest herab.
Marie stand an ihrem Tresen, die Finger fest an seine Kante gekrallt und hielt die Luft an. Ihr Gesicht war beinahe so weiß, wie die Einrichtung des Warteraums. Während ich den Gang entlang in Richtung Umkleidebereich schritt, konnte ich regelrecht hören, wie sie sich den Hals verdrehte, um vielleicht doch noch etwas mehr sehen zu können. Meine Arme hatte ich vor dem Körper angewinkelt und hatte das Kleid über meinen Unterarmen liegen. Wie eine Opfergabe trug ich es vor mir her. Nach ein paar Metern stoppte ich verunsichert. Hatte ich etwas verloren? Hatte ich einen Teil des Kleides fallen lassen? Plötzlich war die Robe, die noch ein beträchtliches Gewicht gehabt hatte, als ich sie von der Puppe zog, deutlich leichter geworden. Ich fühlte wie sich kalte Schweißperlen auf meinem Rücken bildeten. Madame würde rasen vor Wut, wenn ich einen Teil des Kleides hätte fallen lassen. Doch da war nichts. Nichts auf dem Boden, nichts was aus dem Kleid herabhing. Langsam ging ich weiter. Die kleinen Glitzersteine auf der Corsage glänzten nicht mehr unter den Deckenlampen, es war als wären sie von der einen Sekunde auf die andere angelaufen und blind geworden. An diesem Punkt versuchte ich mir noch einzureden, dass ich mir das alles einbildete. Als ich jedoch bei der immer noch kichernden Gruppe ankam, verfärbte sich das Kleid vor meinen Augen. Von der angesetzten Spitze am Saum unten, kroch die graue Farbe an dem Stoff hoch, als hätte man es ist dreckige Flüssigkeit getaucht, mit der es sich nun vollsog. Ich konnte mir gerade noch einen kleinen Schreckenslaut verkneifen, doch ich streckte es Madame entgegen, als wäre es ein totes Tier, das in meinen Armen verfaulte.
Madame lächelte zufrieden, nickte und nahm mir das Kleid ab. Sie bedeutete meiner Cousine ihr in die Umkleide zu folgen und beide verschwanden hinter dem pastellblauen Vorhang. Die Freundinnen meiner Cousine hüpften noch immer von einem Bein auf das andere. Vielleicht lag es auch an meinen Augen. Vielleicht sollte ich mich nach diesem Termin krankmelden und einen Arzt aufsuchen. Es konnte doch nicht sein, dass niemand sonst bemerkt hatte, dass die große glänzende Robe mit einem Mal aussah wie ein Putzlumpen.
Mit einer theatralischen Geste wurde der Vorhang aufgeworfen, Madame gestikulierte meine Cousine vor den großen Spiegel – erst jetzt fiel mir auf, dass auch Madame weiße Baumwollhandschuhe übergestreift hatte – und mit einem Mal befiel die bisher sehr lautstarke Truppe eine große Stille. Meine Cousine starrte mit offenem Mund auf ihr Spiegelbild. Dann drehte sie sich langsam zu mir um.
„Soll das ein Witz sein, Miriam? Hast du aus irgendeiner Rumpelkammer einen Fetzen gezogen, um mich hier zu verarschen oder was ist das?“ sie deutete mit einer ausladenden Geste an dem Kleid hinab. Bevor ich reagieren konnte, räusperte sich Madame, trat einen Schritt nach vorn und legte die behandschuhte Hand auf den fleischigen Arm meiner Cousine.
„Ich darf doch sehr bitten, Katharina. Das ist das Kleid von der Puppe, das Sie so dringend anprobieren wollten.“
Mir wurde schwindelig. Ich verstand nicht mehr, was hier vor sich ging. Es konnte doch jeder sehen, dass es nicht dasselbe Kleid war. Die Ränder der Corsage waren ausgefranst, statt feingeschliffenen Steinchen, klebten plötzlich Plastikpailletten an dem Oberteil und der Tüllrock war grau und sah aus, als hätte man mehrere Lagen Fliegengitter übereinandergelegt. Ich weiß nicht, wie es möglich war, doch es war ein vollkommen anderes Kleid, auch wenn selbst Madame darauf beharrte, dass es das von der Puppe war.
Meine Cousine funkelte sie wütend an und ihr Gesicht verfärbte sich rot.
„Habt ihr das gemeinsam ausgeheckt, du und die irre Alte? Du warst schon immer ein solches Arschloch, Miriam, ich könnte…“
Sie stoppte mitten im Satz und begann mit einem Mal hinab auf ihre Brüste zu starren. Es dauerte kurz, bis ich bemerkte, dass nicht nur ihr Kopf knallrot angelaufen war, sondern auch über ihrem Dekolleté die Haut sich deutlich verfärbt hatte. Plötzlich begann sie los zu kreischen. Ihre Hände flogen hoch an die Corsage und sie begann wie besessen daran zu zerren. Die kleinen Plastikpailletten zerbrachen unter ihren Fingern und rieselten zu Boden und sie schrie und schrie weiter.
„Es brennt, es verbrennt mich, zieht es mir aus, zieht es mir aus!“
Meine Tante schlug die Hände vor den Mund und taumelte schluchzend zurück, während die Freundinnen begannen hysterisch zu quieken und wie wild die Köpfe zu schütteln. In all dem Durcheinander trat Madame vollkommen ruhig hinter meine Cousine, griff nach dem Reißverschluss und zog ihn mit einer einzigen fließenden Bewegung auf. Das Kleid sank zu Boden und meine Cousine rannte, immer noch schreiend, in Richtung Umkleide.
Ich konnte nicht viel erkennen, doch was ich sah, ließ mich erschaudern. Ihr ganzer Körper war glänzend rot, als hätte sie sich die Haut komplett abgeschürft und an ihrem Bauch hatten sich große, weiße Pusteln gebildet. Als sie wieder aus der Umkleide kam, hatte sie sich ihre Hose hochgezogen, aber der Gürtel baumelte noch offen vor ihrem Bauch. Das Shirt hatte sie an, doch ihre Schuhe trug sie in der Hand und sie rannte ohne ein weiteres Wort immer noch schreiend und nun auch heulend aus dem Laden. Meine Tante und die beiden Freundinnen folgten ihr auf dem Fuße.
Mir war schlecht. Die großen Blasen hatten sich auch an ihrem Hals gebildet und offenbar war eine geplatzt, als sie sich das Short hastig übergezogen hatte. Madame schien das ganze kalt zu lassen. Sie lächelte und streifte ihre weißen Handschuhe ab.
„Miriam, seien Sie doch bitte so gut und bringen Sie das Kleid wieder an seinen Platz.“
Das Kleid lag in einem zerwühlten Haufen auf dem Fußboden und mit einem Mal stand ich alleine da. Ich begriff immer noch nicht so recht, was gerade passiert war. Schließlich hob ich das Durcheinander an Tüll und Pailletten hoch und trug es zurück in Richtung Wartebereich. Ich überlegte, ob wir es nicht zuerst in die Reinigung geben sollten. Doch Madame war in ihrer Anweisung sehr deutlich gewesen. Als ich den Durchgang betrat, wurde das Kleid plötzlich wieder schwerer in meinen Armen. Ich konnte Marie an ihrem Empfangstresen sehen, die mich mit großen Augen anstarrte. Ich ignorierte sie. Sie würde Fragen haben und ich hatte mit Sicherheit keine Antworten für sie. Also kletterte ich wieder auf das kleine Podest zu der Puppe und entwirrte das zusammengeknüllte Kleid. Im Licht dort oben leuchtete es wieder in strahlendem Weiß und als ich die Corsage wieder in ihre richtige Position gedreht hatte, strahlten die unzähligen Bahnen von kleinen Steinchen wieder in ihrer edelsteingleichen Brillanz. Ich war so überrascht und erschrocken, dass ich es beinahe fallen ließ. So schnell ich konnte, stülpte ich es wieder über die Puppe, zog den Reißverschluss zu und montierte die Arme wieder an der Puppe. Dann fiel ich mehr von dem Podest, als dass ich hinabstieg. Auch wenn ich es nicht wollte, als ich die Samtabsperrung wieder einhängte, blickte ich nochmals zu dem Kleid hoch. Es strahlte wieder in der gleichen Erhabenheit und Eleganz, wie es bis zu diesem Nachmittag immer getan hatte, makellos.
Sobald ich das Hemd und die Handschuhe ausgezogen hatte, entschuldigte ich mich bei Madame und nahm mir den Rest des Nachmittags frei, weil es mir nicht gut ginge. Genau genommen war es nicht einmal gelogen. Der Anblick von Katharinas geschwollenem Körper und den großen weißen Blasen auf ihrer Haut drängte sich wieder in meine Gedanken und ich fühlte, wie mir übel wurde. Ich zog mich um und verließ das „Auf immer und ewig“ mit einem grauenvollen Gefühl im Magen. Auf dem Weg zum Busbahnhof warf ich ein Blick auf mein Handy. Meine Tante hatte mir insgesamt drei Sprachnachrichten geschickt. Es war gerade einmal dreißig Minuten seit sie aus dem Laden gestürmt waren. Ich drehte sie Lautstärke leicht auf, startete die Nachricht und hielt den Lautsprecher an mein Ohr.
Meine Tante musste die Nachricht unmittelbar nach Erreichen ihres Autos auf dem Parkplatz aufgenommen haben. Sie klang verärgert.
„Ich hoffe du bist jetzt zufrieden Miriam! Ganz ehrlich ich hätte nie erwartet, dass du so gehässig und eifersüchtig sein kannst und Kathi ihr Glück nicht gönnst und ihr den Tag so verdirbst!“
Ich seufzte. Natürlich war es meine Schuld, wessen denn sonst. Noch immer war ich mir nicht wirklich sicher, was genau da passiert war, vielleicht eine massive allergische Reaktion auf das Kleid oder das Reinigungsmittel mit dem es vielleicht schon einmal behandelt wurde, aber ich hatte es nicht verschuldet. Nach kurzem Zögern – ich erwartete nur noch weitere Vorwürfe – spielte ich die zweite Nachricht ab. Sie war etwa eine Viertelstunde nach der ersten aufgezeichnet worden. Die Stimme meiner Tante hatte sich geändert. Kein Ärger mehr, nur noch Angst, nackte, rohe Angst.
„Miriam, sie ist wirklich schwer verletzt, oh Gott, was ist da in diesem Laden passiert, was hat die alte Hexe mit meiner Kleinen gemacht? Sie blutet, oh Gott, was ist da nur passiert. Miriam, bitte sag mir, was da vor sich geht in diesem Laden!“
Es war mehr ein Schluchzen und Wimmern, als eine Forderung. Meine Tante bettelte nach Hilfe. Ich blieb stehen und starrte auf das Display. Die letzte Nachricht war erst vor wenigen Minuten aufgezeichnet worden. Mein Magen begann zu krampfen und ich spürte wie die Magensäure und der unverdaute Mittagssnack in meiner Speiseröhre brannten. Dennoch drücke ich auf das Play Symbol und hob den Lautsprecher zurück an mein Ohr. Dieses Mal weinte sie. Nicht still und traurig, sondern mit lautem Schluchzen und immer wieder schnappte sie nach Luft. Der Rotz in ihrer Nase hinderte sie immer wieder geräuschvoll am Atmen.
„Miriam, oh mein Gott Miriam, was passiert mit uns? Sie häutet sich. Es… es fä-fä-fällt in großen Stücken von ihr ab. Alles ist voller Blut. Oh Gott Miriam, wieso braucht der Notarzt so lange, wieso kommt niemand? Wir brauchen Hilfe, wir… sie…“
Noch mehr Schluchzen und dann endete die Nachricht.
Das Atmen fiel mir schwer, als ich das Handy sinken ließ und ungläubig auf das Display starrte. Als es schwarz wurde, machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte zurück. Meine Knie schmerzten bald und meine Lunge brannte von der ungewohnten Belastung, doch ich wurde nicht langsamer, bis ich durch die Eingangstür des „Für immer und ewig“ platzte. Marie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, doch ich ignorierte sie. Ich ging durch den Eingangsbereich, vorbei an dem weißen Ledersofa, vorbei an dem Kleid, direkt nach hinten. Marie rief mir hinterher wegen den Straßenschuhen. Ich reagierte nicht. Es dauerte nicht lange, bis ich Madame zwischen ihren Kleidern entdeckte. Sie war allein. Noch kein neuer Termin war im Laden angekommen.
„Was ist da vorhin passiert? Was war los mit diesem… diesem Ding?“
Ich schrie sie beinahe an. Atemlos und außer mir. Madame schien es mir nicht übel zu nehmen. Sie verschränkte ihre schlanken Arme vor dem Blazer ihres pastellfarbenen Kostüms und lächelte. Sie wirkte beunruhigend zufrieden. Als sie wieder sprach, trat sie einen Schritt auf mich zu, legte mir eine ihrer feingliedrigen Hände auf die Schulter und schob mich sanft in Richtung Wartebereich.
„du musst verstehen, Miriam, eine Heirat ist etwas sehr Ernstes, etwas Heiliges, das man nicht aus Egoismus und Habgier belecken sollte.“
Bevor ich mich versah, standen wir vor der Puppe und dem Kleid, das wieder in seiner ganzen Schönheit auf uns herab strahlte. Und Madame blickte mit ebenso strahlenden Augen zu ihm auf.
„Dieses Kleid ist etwas ganz Spezielles, mein Kind. Es zeigt die wahre Braut, die sich unter all dem Gerede und dem Getue verbirgt. Das Kleid kennt keine Gnade und ist nur jenen Bräuten gewogen, die mit reinem Herzen und dem Wunsch nach einer Liebe für immer und ewig vor den Altar treten.“
Ich starrte verwirrt zu dem Kleid hoch und versuchte zu verstehen, was ich da gerade gehört hatte. Eigentlich war ich ein vernünftiger Mensch, ich war nicht einmal nennenswert gläubig, dennoch kam mir kein Zweifel daran, dass die Geschichte genau das beschrieb, was heute vor meinen Augen geschehen war. Das Kleid hatte meine Cousine bestraft.
Ich trat langsam von dem Kleid zurück, bis Madames Hand von meiner Schulter glitt. Ohne ein weiteres Wort verließ ich das „Auf immer und ewig“. Es war das letzte Mal, dass ich einen Fuß in das Reich der Madame setzte. Ich würde es nie wieder betreten. Draußen auf der Straße begann ich wieder zu rennen. Der Busbahnhof war zu weit weg, doch etwas weiter die Straße runter, kurz vor der Fußgängerzone, standen die Taxis. Ich stieg in das erste und wies den Fahrer an, mich zum Krankenhaus zu fahren. Dort angekommen, drückte ich ihm ein paar Scheine in die Hand, sprang aus dem Fahrzeug und rannte zum Eingang der Notaufnahme. Während ich den Bürgersteig hochrannte, bog ein Krankenwagen mit Blaulicht an mir vorbei und hielt oben vor dem Eingang. Die Hecktüren des Fahrzeugs schwangen auf und zu meinem Entsetzen konnte ich die Person, die dort auf die Bahre geschnallt war, erkennen. Es war Katharina.
Ich weiß nicht einmal mehr, woran ich sie erkannte. Ihr Gesicht war ein glänzendes Schlachtfeld. Rot und feucht, Blut und Eiter flossen hinab auf die weiße Bahre. Büschel ihrer blonden Haare waren ausgefallen oder sie hatte sie sich ausgerissen. Man konnte die nasse rote Kopfhaut durch die Löcher schimmern sehen. Ihr Arm hatte sich bereits verfärbt. Das nackte Fleisch war grau geworden und dort wo ich glaubte, dass die riesigen Blasen gewesen waren, hatten sich tiefe schwarze Krater in ihren Körper gefressen.
Es waren nur Sekunden, doch ich sah mehr, als mir lieb war. Meine Tante kletterte hinter den Sanitätern und der Bahre aus dem Krankenwagen. Sie verschwanden im Laufschritt durch die automatische Tür. Irgendwie erleichterte es mich, dass sie mich nicht gesehen hatte. Ich blieb einfach stehen. Starrte hoch zu dem Krankenwagen und wartete. Ich wartete, bis der Wagen wieder abfuhr. Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zum Busbahnhof.

Ich ignorierte alle weiteren Nachrichten von meiner Tante. Selbst als meine Mutter nachfragte, was passiert war, murmelte ich nur einen Unsinn von Allergie und wechselte das Thema. Ich habe Katharina nach dem Vorfall nie besucht. Es hätte auch keinen Sinn gemacht. Man erzählte mir später, dass sie niemanden sehen wollte. Die Ärzte wissen bis heute nicht, was mit ihr passiert ist und auch nicht, wie sie es überleben konnte. Sie hat überlebt, sich aber nie wieder erholt. Dass ihr potentieller Gatte die Hochzeit und die ganze Beziehung abgeblasen hat, nachdem er einen Blick auf ihren Zustand geworfen hatte, muss ich wohl nicht erwähnen.
All das liegt nun so viele Jahre zurück. Immer und immer wieder habe ich mit dem Gedanken gespielt, noch einmal zurück zu gehen und mit Madame zu sprechen. Oder einfach mit einer Flasche Schnaps und einem Feuerzeug das Kleid anzuzünden. Oder auch nur einmal mit Katharina zu sprechen.
Nichts von all dem habe ich je getan. Vielleicht weil ich mir dachte, die Zeit würde das schon regeln. Madame war alt gewesen, bestimmt schon Anfang 70 als ich dort gearbeitet hatte. Irgendwann würde sie sich zur Ruhe setzen und der ganze Spuk hatte ein Ende.
Hatte ich gedacht.
Heute Morgen erzählte mir eine Kollegin mit strahlenden Augen, dass sie im „Für immer und ewig“ das Kleid ihrer Träume gesehen hätte. Eine wunderschöne Robe auf einer Puppe im Wartebereich des Geschäfts. Beim nächsten Termin wollte sie die Betreiberin, eine alte Dame in einem pastellgrünen Kostüm, bitten, ob sie nicht einmal dieses Kleid anprobieren könnte.